SWR2 Wort zum Tag

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Schön sieht es aus. Majestätisch. Schwerelos. Gerne beobachte ich die Milane, die vor dem Küchenfenster über die Felder segeln. Von unserem Haus aus kann ich weit ins Neckartal schauen. Wie brillant diese großen Raubvögel fliegen können!
Wenn ich ihnen zusehe, wünsche ich mir manchmal, das auch zu können. Oder zumindest eine solche Kraft spüren wie die Bibel sie verspricht: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler“ (Jesaja 40,31), so heißt es im Buch Jesaja. Auffahren mit Flügeln wie Adler… So viel neuen Schwung aus dem Glauben an Gott schöpfen zu können, das wäre schön.
Neulich aber hat mir ein Kollegen, der sich im Alten Testament und der Hebräischen Sprache gut auskennt, etwas Spannendes erzählt: Der große Raubvogel, von dem an dieser Bibelstelle die Rede ist, ist vielleicht gar kein Adler – auch wenn Martin Luther das hebräische Wort so übersetzt hat. Andere Belegstellen in der Bibel legen es nahe, dass es sich eher um einen Geier, vielleicht einen Gänsegeier handelt.
Auffahren mit Flügeln wie Geier – das klingt schon nicht mehr so elegant. Gerade Gänsegeier, die viel gefressen haben, so habe ich gelesen, können sich oft nur mit Mühe aus eigener Kraft in die Lüfte erheben. Aber die Tiere, die oft auf Klippen oder in Schluchten zu Hause sind, haben eine Lösung gefunden. Sie bewegen sich zu einem Felsvorsprung und springen in die Tiefe. Dabei breiten sie die Flügel aus – und lassen sich vom Aufwind tragen. Dann allerdings können sie, Meister des Segelflugs, in Spiralen höher und höher steigen.
Dieses Bild gibt dem Bibelvers einen völlig anderen Akzent. „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln…“ – das bedeutet nicht: Wer auf Gott vertraut, hat genügend Kraft, um sich selbst in die Lüfte zu erheben. Im Gegenteil: Vertrauen auf Gott bedeutet: Wenn die Kraft nicht reicht, dann kann ich mich fallen lassen. Und darauf vertrauen, dass ich getragen werde. Daran muss ich jetzt immer denken, wenn ich die eleganten Milane vor unserem Küchenfenster sehe.
Der Bibelvers gefällt mir so viel besser. Vieles kann ich eben nicht aus eigener Kraft schaffen oder steuern. Wenn ich jemandem ein Problem anvertraue und nicht weiß, ob er oder sie gut damit umgeht. Wenn ich eine Aufgabe übernommen habe und nicht absehen kann, ob ich damit zurechtkomme. Dann hilft mir die Botschaft der Geier: Lass dich fallen, breite die Flügel aus und vertraue darauf, dass du getragen wirst.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20074
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