SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Als Theologiestudent sind mir immer wieder Studenten anderer Wissenschaften begegnet, die mich belächelt haben. Sie haben gemeint, den Glauben kann man doch nicht wissenschaftlich erforschen. Sie wollten sich lieber nur an das halten, was man sehen kann. Heute weiß ich, dass Ärzte, Politik- und Wirtschaftswissenschaftler oft genauso auf Vermutungen und Hypothesen angewiesen sind, wie ich als Theologe. Dieses Prinzip, dass ich nur das glaube, was ich sehen kann, ist nicht ja auch nicht neu. Die Philosophie nennt es Positivismus. Letztlich war schon der Apostel Thomas ein Vertreter der Positivisten, die nur an das glauben wollen, was sie sehen und anfassen können. Dummerweise war er grad nicht da, als Jesus nach der Auferstehung den Jüngern erschienen ist. Und als diese ihm dann davon erzählt haben, hat er gesagt, dass er das erst dann glaubt, wenn er es selbst gesehen hat. In der katholischen Kirche erinnert man heute an ihn.

Früher habe ich mich so sicher in meinem Glauben gefühlt, dass ich diese Kritik belächeln konnte. Inzwischen habe ich einige Erfahrungen gemacht, die mich immer wieder zweifeln lassen, ob es diesen Gott überhaupt gibt. Oder ob er nicht eine Einbildung oder Wunschvorstellung für die ist, die mit der Wirklichkeit nicht klar kommen. Besonders wenn ich tragische Schicksale von Leuten mitbekomme, zum Beispiel wenn ein Baby schwer behindert zur Welt kommt. Das ist doch einfach ungerecht. Ich hadere dann mit Gott, wie er so etwas zulassen kann. Und ich sage ihm dann, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie er mir das eines Tages erklären will. Ich hadere und beschwere mich, aber manchmal führt das auch dazu, dass ich zweifle, ob es ihn überhaupt gibt. Ich kann ihn nicht sehen und das, worauf ich hoffe, erscheint dann völlig unberechenbar und ungerecht.

Es hilft mir dann weiter, wenn ich an andere Dinge denke, an die auch glaube, obwohl ich sie nicht sehen und auch nicht kontrollieren kann: Vertrauen und Liebe. Ich kann sie nicht anfassen und nicht sehen. Und trotzdem lebe ich so, als ob es sie gibt. Vertrauen und Liebe sind für mich sogar wichtiger als vieles, was ich sehen kann. Ich kann sie aber erfahren, wenn ich mich auf andere Menschen einlasse. Und vielleicht ist das mit Gott auch so: Ich kann ihn nicht sehen, ich spüre ihn nicht immer, aber manchmal wird mir im Nachhinein klar, dass ich von ihm getragen bin, wenn ich mich auf ihn einlasse.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20021
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