SWR2 Wort zum Tag

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Wo ist bloß der Autoschlüssel hingekommen? Ich war mir sicher: Er lag eben noch auf der Kommode im Flur. Aber da war er nicht. Ich habe gesucht, überall. Hatte meine Kinder im Verdacht: Vielleicht hatten sie rein zufällig die Schlüssel weggelegt? Mir riss bei der verglichen Suche langsam der Geduldsfaden. Schlüssel vergessen – das ist ärgerlich. Und ich wünschte mir: Könnte ich mich doch immer an alles erinnern. Ich würde keine Schlüssel mehr suchen, keinen Namen vergessen, hätte jedes Passwort parat.
Aber ich weiß: Vergessen ist auch gut. Denn bisweilen ist es sinnvoll, etwas zu vergessen. Situationen, die ärgern, belasten, kränken, bedrücken, Menschen, die mir wehgetan haben, schlechte Erfahrungen.
Der Philosoph Friedrich Nietzsche hielt gerade deshalb das Vergessen für eine zentrale Fähigkeit des Menschen. Der Mensch ist, so der Philosoph, das „notwendig vergessliche Tier, an dem das Vergessen eine Kraft, eine Form der starken Gesundheit darstellt.“ (Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral (KSA 5), München 1999, 292). Das heißt: Erst das Vergessen ermöglicht es, so Nietzsche, als Mensch zu leben.
Ein ungewöhnlicher Gedanke. Aber Nietzsche greift die Erfahrung auf, dass manches Wissen und manche Erfahrung den Menschen belastet. Da ist es gut, wenn Menschen aktiv vergessen. Nur so können sie nämlich Platz für Neues schaffen, für neue Erinnerungen, für neues Wissen, für neue Erfahrungen. Platz für neue Eindrücke und Freiheit von dem, was mich belastet. Das Vergessen ist eine, so Nietzsche, „Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung“, die sonst in Unordnung geriete.
Ein Gegenmodell zu den Überlegungen Friedrich Nietzsches liefert das Judentum. Mit dem Christentum gilt es als typische ‚Gedächtnis-Religion’. Das zeigt schon die Bibel: Sie bewahrt Erinnerungen auf, in Geschichten und Gebeten verpackt. Die Idee dahinter: Biblische Geschichten helfen, die eigene Geschichte aufzubewahren. Um zu wissen, wo man herkommt, um aus der Vergangenheit zu lernen, um gestärkt in die Zukunft gehen zu können. Jüdischerseits gilt deshalb das Gebot: „Zachor! – Erinnere dich!“
Ich glaube: Vergessen und Erinnern gehören zusammen. Wer sich an alles erinnert, der ist nicht frei; wer alles vergisst, der kann nicht leben. Das hat mir ein einfacher Schlüssel gezeigt, den ich vergessen habe. Übrigens: Ich konnte mich später doch noch erinnern, wo er lag. Ein echtes Glück.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=1999
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