Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Nächstenliebe heißt manchmal auch: Aufgaben abgeben.
Das habe ich durch Karl gelernt. Karl hat mich angerufen und mir von einem gemeinsamen Bekannten erzählt. „Du, er braucht jetzt dringend Hilfe“, sagt er zu mir. „Im Alltag. Einkaufen, Fahrdienste und so. Du kannst das doch machen. Du bist schließlich Pfarrerin. Nächstenliebe und so.“
Und schon legt er auf. Und ich ärgere mich. Weil ich gar nicht wüsste, wie ich das schaffen soll. Und weil Karl so selbstverständlich davon ausgeht, dass ich zuständig bin. Als Christin immer im Dauerhilfseinsatz. Wegen der Nächstenliebe und so.
Bin ich nicht auch eine „Nächste“ für mich? Darf ich aus Liebe zu mir selbst nicht auch mal Aufgaben abgeben?
Beides gehört doch zusammen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, steht in der Bibel. Und Jesus hat dazu die Geschichte vom barmherzigen Samariter erzählt:
Da ist ein Mann unterwegs und sieht einen Verletzten am Straßenrand liegen. Er hält an, verbindet dessen Wunden und bringt ihn zu einer Unterkunft. Dort bleibt er aber nicht, sondern zieht weiter. Dem Wirt gibt er vorher Geld, damit der sich weiter um den Verletzten kümmert.
Ich finde es gut, dass der Reisende in der Geschichte nicht bleibt, bis der Verletzte wieder gesund ist. Er hilft, als keiner da ist außer ihm. Aber später im Gasthaus hat sich die Situation geändert. Da ist noch jemand, der helfen kann. Der Wirt. Der sowieso da bleibt. Also kann der Reisende die Pflege des Verletzten abgeben und weiterziehen.

Ich höre aus der Erzählung: Nächstenliebe heißt nicht: Selbstaufgabe oder Dauerhilfeeinsatz. Es ist wichtig, auch sich selber, die eigenen Grenzen und Bedürfnisse ernst zu nehmen.
Das hat Jesus auch gemacht. Auch er hat sich manchmal von allen zurückgezogen. Auch er hat nicht allen geholfen.
Nächstenliebe ist: Dasein, wo man gebraucht wird. Aber dann auch abgeben und andere in die Hilfe mit einbinden.
Karl und ich haben unserem Bekannten schließlich gemeinsam geholfen. Er hat die Fahrdienste übernommen, ich das Einkaufen. So hatte jeder noch Zeit für seine eigenen Anliegen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19947
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