Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Die Touristengruppen schauen und fotografieren in der Wallfahrtskirche herum.

Mittendrin im Gewühl steht eine Ordenschwester und stellt in aller Ruhe ein Kreuz auf den Altar: Sie  rückt Blumen zurecht und verteilt Gesangbücher auf den Stühlen. In einer halben Stunde ist Gottesdienst. „Ich kann damit ja gar nichts anfangen“, höre ich neben mir. „Dieses Kreuz. Ein Mord- und Folterding. Das ist so was von brutal“.  Ja, das Problem kenne ich, das höre ich öfter. Irgendwie kommt es wohl auf den Standpunkt des Betrachters an. Was er erlebt hat bisher, mit welchen Augen er das Kreuz  betrachtet. Fast bin ich sogar froh über die Meinung der Touristin neben mir. Ich denke: wahrscheinlich geht es ihr in ihrem Leben einigermaßen gut, sie hat -hoffentlich- noch nichts Brutales erleben müssen, keine Erfahrungen mit einem ganz persönlichen Kreuz gemacht.  Ich hätte ihr nämlich gerne von einem anderen Menschen erzählt, der mir begegnet ist.  Der hat in seinem Leben  so schlimme Dinge erlebt, dass er fast daran zerbrochen ist. Auf jeden Fall ist er für sein ganzes Leben seelisch gezeichnet, schleppt ein schweres Trauma mit sich herum. Das sieht man ihm auch körperlich an. Und er hat eigenartigerweise ein ganz anderes Verhältnis zum Kreuz. Er sagt: „Ich stand einmal vor einem Kreuz und plötzlich hatte ich irgendwie das tiefe Gefühl, dass es für mich etwas bedeutet, dass Gott am Kreuz gestorben ist. Das Kreuz vermittelt mir, dass Gott mich sieht. Dass es keinen gottverlassenen Ort auf der Welt gibt, wo er nicht ist.“ Und auf die Frage, ob und wie ihm denn diese Einsicht hilft, sagt er: „Ich krieg kein neues Leben, keine neue Seele. Aber Gott kommt zu mir. Es ist nicht so, dass er mit seinem Licht alles Dunkle vertreibt, sondern er kommt selbst in mein Dunkel hinein. Dadurch ist mein Elend ein anderes.“  Was für ein Unterschied. Für den einen ist das Kreuz eher störend, ärgerlich und unverständlich. Für den anderen eine Hilfe, das Leben irgendwie auszuhalten.

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