Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Und wir dachten, wir hätten noch so viel Zeit!“ – Dieser kleine Satz stand dieser Tage über einer Todesanzeige. Eine Frau hat ihren Mann verloren und schreibt in ihrer Trauer: „Und wir dachten, wir hätten noch so viel Zeit!“

Meine erste Reaktion auf diesen Satz war gleichfalls Traurigkeit. Der Tod eines geliebten Menschen nimmt unendlich viele Möglichkeiten für eine weitere gemeinsame Zeit. Für die Zukunft gilt das in jedem Fall.

Der Tod eines lieben Menschen verändert aber auch die Vergangenheit. Was bislang selbstverständlich schien, wird plötzlich sehr wertvoll.

„Und wird dachten, wir hätten noch so viel Zeit!“ – Ich erahne großartige Geschichten hinter diesem Satz. Die große Liebe des Lebens darf ich vermuten. Nach dem Kennenlernen die Hochzeit, ein rauschendes Fest. Die Kinder, einst ganz klein und heute längst mitten im Leben. Die vielen Familienfeste, die Ausflüge und Urlaube – und zu allem kann eine Geschichte erzählt werden. Und auch das Schwere, der Kummer und das Leid – es wurde zusammen getragen, gemeinsam ertragen. Ich kann mir die Freude darüber regelrecht vorstellen, dass alles gut war. Dass lange Zeit alles gut war. Das alles höre ich aus dem Satz heraus: „Und wir dachten, wir hätten noch so viel Zeit!“

Ich höre aus diesem Satz aber auch die Angst heraus, jetzt allein leben zu müssen, das vielleicht nicht zu können, in jedem Fall aber nicht zu wollen. Allein zu leben, ohne den geliebten Menschen, wie soll das gehen? Wenn aus der erhofften gemeinsamen Zeit plötzlich Alleinsein wird, an manchen Tagen sogar Einsamkeit? Und wie groß das Haus plötzlich ist, noch größer, als es nach dem Auszug der Kinder schon einmal geworden war. Und ich höre aus dem Satz heraus die Sorge, dass Freundschaften einfach auslaufen, dass Kontakte verloren gehen. Dass es merkwürdig kalt wird.

„Und wir dachten, wir hätten noch so viel Zeit!“ – für diesen Satz gilt beides: Er erzählt großartige Geschichten von einem großen Glück und von einer sich breit machenden Angst. Für mich erzählt er aber vor allem die Geschichte von zwei Menschen, die sich lieben und die über den Tod hinaus miteinander verbunden bleiben.

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