SWR2 Wort zum Tag

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„Sieh, meine Freundin, du bist schön. Deine Augen sind wie Taubenaugen. Deine Lippen sind wie eine scharlachfarbene Schnur“, heißt es im „Hohenlied“ Salomons, einer Sammlung von Liebesliedern in der Bibel. „Dein Hals ist wie der Turm Davids...Deine Brüste sind wie junge Zwillinge von Gazellen.“  So würde das heute niemand mehr sagen. Ein Hals wie einen Turm – das hört sich eigentlich gar nicht nach einem Kompliment an. Aber man versteht doch genau, was gemeint ist.  Da sinkt jemand vor der Schönheit seiner Freundin auf die Knie. Sie ist einfach schön.
Heute heißen  die Schönen Pauline, Anna oder Sophia. Ihre Lippen sind rot wie ein Himbeerbonbon. Ihre Haut schimmert samtig wie ein frischer Pfirsich und ihre Haare sind honigfarben. Und zwar von Natur aus, ohne irgendwelche kosmetischen Zutaten. Ohne Schönheits-OPs. Einfach, weil sie so schön sind. Wesen, die so aussehen, dass man sie einfach mögen muss. So schön, so anmutig, dass man gar nicht mehr wegschauen möchte. Und das Gefühl hat: die alten Griechen hatten recht, wenn sie sagten: Wer das Schöne sieht, der sieht etwas Göttliches. Beim Anblick der „irdischen Schönheit“ erinnern sich die Menschen an die wahre, göttliche Schönheit, die so ohne Mühe vollkommen ist.
Es ist so einfach, die Schönheit hässlich zu reden. Zu sagen: lasst uns in Ruhe mit dem Schönheitsterror. Es ist so einfach, zu vermuten, dass hinter der schönen Stirn oft kein einziger klarer Gedanke liegt und aus einem schönen Mund der dumpfeste Blödsinn kommt. Es ist so einfach zu unterstellen, dass ein schöner Busen unbedingt ein kaltes Herz bergen müsste. Und nichts ist einfacher, als der Schönheit zu sagen, dass sie in ein paar Jahren Runzeln bekommt und Altersflecken und Cellulitis. Dass sie vergeht wie alles Schöne.
Aber warum sollten wir die Schönheit unbedingt schlecht machen? Warum nicht hinschauen und uns freuen? Warum nicht zugeben, dass sie uns betört, dass Schönheit dem Auge gut tut? Danken wir also dem Herren, dass zwischen den vielen Älteren immer noch junge, schöne Geschöpfe nachwachsen. Wir aber, die wir Falten haben und graue Haare, trösten uns mit der Einsicht: Schön ist eigentlich alles, was mit Liebe betrachtet wird. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19829
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