SWR2 Wort zum Tag

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Wer sich umdreht, hat verloren. So wie Orpheus, der antike Königssohn. Er konnte betörend schön singen, und als Leier-Spieler gehörte er zur Creme de la creme. Verheiratet war er mit der wunderbaren Eurydike. Beide liebten sich zärtlich. Doch schon kurz nach ihrer Hochzeit wurde Eurydike bei einem Spaziergang von einer giftigen Natter gebissen und starb. Orpheus ist untröstlich. Er fasst den wahnwitzigen Entschluss, hinab in die Unterwelt zu steigen und dort mit seiner Musik die Götter umzustimmen. Er kann ja nicht nur einfach gut singen: er kann mit seinem Lied verzaubern: Frieden stiften, Berge versetzen und wilde Tiere zähmen. Also singt er den Göttern von seiner Trauer, seinem Schmerz um seine früh verstorbene Frau, und tatsächlich lassen sie sich erweichen. Tränen fließen -  und alle sind auf einmal voll Mitleid mit dem Sänger.
Sie beschließen, Eurydike zu holen, die mit unsicheren Schritten herankommt. "`Nimm sie mit dir', spricht die Totengöttin,`aber wisse: Nur wenn du keinen Blick auf die Folgende wirfst, ehe du das Tor der Unterwelt durchschritten, nur dann gehört sie dir; doch schaust du dich zu frühe nach ihr um, so wird dir die Gnade entzogen.' Orpheus weiß, was jetzt auf dem Spiel steht: einmal umdrehen, und alle Mühe ist vergeblich gewesen. Schweigend und schnell gehen die beiden den Weg durch die Unterwelt. Doch Orpheus beginnt zu zweifeln. Sollte Eurydike immer noch hinter ihm hergehen? Er versucht jedes Umschauen zu vermeiden. Er lauscht angestrengt, ob er nicht einen Atemzug, eine Rascheln der Kleider hört. Aber wie viel mehr Sicherheit würde es ihm gegeben, sehen zu können, dass sie ihm folgt. Und so, "seiner selbst kaum mächtig" dreht er sich um. Das was er als Sänger, als Musiker kann: sich sicher sein und sich nicht korrigieren, ist ihm als Liebender versagt.  
Die alten Kirchenväter meinten: Jesus ist für uns Menschen wie Orpheus. Nur ein Orpheus mit mehr Erfolg. Ein Orpheus, der nicht zweifelt. Der nicht zurückschaut. Wie Orpheus ist Jesus in das Reich des Todes hinabgestiegen um die Menschen ins Leben zu führen. Und warum hat er das gemacht? Aus Liebe. Und wie hat er das gemacht? Sicher, sanft und ohne Gewalt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19828
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