SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

„Wissen Sie, Herr Pfarrer“, hat die Frau gesagt, „bald werde ich mich überhaupt nicht mehr bewegen können. Sie hatte eine schwere Muskelerkrankung. Seit zwei Jahren saß sie im Rollstuhl. Deshalb wollte sie mich sprechen. Sie wollte von mir wissen, ob ein Christ sich selber töten darf. „Das ist doch kein Leben mehr“, hat sie gesagt, „wenn man nichts selber kann und nur noch von anderen abhängig ist! Das will ich nicht. Da mache ich vorher Schluss.“
Ich habe die Frau gekannt. Sie war ein Leben lang unabhängig gewesen, hatte ihre beiden Töchter alleine großgezogen. Von ihrem Mann hatte sie sich früh getrennt. Danach hatte sie sich geschworen: Nie wieder will ich von anderen Menschen abhängig sein! Dann kam diese böse Krankheit und mit ihr das Abhängigsein von anderen. Und das hat sie nicht ertragen wollen.
„Darf sich ein Christ das Leben nehmen, Herr Pfarrer?“ Ihre Frage hat mich berührt. Ich habe ihr geantwortet, dass ich als Christ glaube, dass das Leben allein Gott gehört. Daher dürfen wir Menschen unser Leben nicht selber beenden. Aber, habe ich gesagt, ich verstehe auch, wenn Menschen nicht mehr leben wollen, weil das Leben unerträglich geworden ist.
Ich habe ihr vom Beter des 139. Psalms der Bibel erzählt. Den haben schwere Gedanken geplagt. Auch sein Lebensweg lag im Dunkeln. Da fragt er nach Gott. „Du verstehst meine Gedanken von ferne“, sagt der Beter. Es tröstet ihn zu wissen, dass Gott seine Situation kennt. Am Ende bittet er Gott, ihm den richtigen Weg zu zeigen: „Durchforsche mich, Gott, sieh mir ins Herz! Verstehe mich und begreife, was ich denke! Schau doch, ob ich auf einem falschen Weg bin und führe mich auf den Weg, der Zukunft hat!“    
„Irgendwann muss ich mich entscheiden“, hat die Frau gesagt. „Wenn ich mich für’s Sterben entscheide, hoffe ich auf die Vergebung. Gott möge mir vergeben - und auch meine Töchter.“
Ob ich dieser kranken Frau bei ihrer Suche nach dem richtigen Weg helfen konnte? Ich weiß es nicht. Aber mit ihr hoffe ich auf Gott, der uns Menschen versteht und liebt. Und uns vergibt, wenn wir eigene Wege gehen. Ich glaube, dieser Gedanken war für die kranke Frau ein tiefer Trost: Gott vergibt.

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