SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Nie und nie in meinem ganzen Leben war ich so von Schauer und Erhabenheit erschüttert, wie in diesen zwei Minuten,“ schreibt Adalbert Stifter über die Sonnefinsternis, die er 1842 in Wien beobachtete. „Es war nicht anders, als hätte Gott auf einmal ein deutliches Wort gesprochen und ich hätte es verstanden. Ich stieg von meiner Warte herab, wie etwa Moses von dem brennenden Berge herabgestiegen sein mochte, verwirrten und betäubten Herzens.“
Und Stifter fährt fort: „ Wie heilig, wie unbegreiflich und wie furchtbar ist jenes Ding, das uns stets umflutet, und das unseren Erdball mit solchen Schaudern zittern macht, wenn es sich entzieht, das Licht, wenn es sich nur kurz entzieht.“
Neulich bei der Sonnenfinsternis habe ich diesen Text noch einmal gelesen. Und dachte: vielleicht ist der stärkste Eindruck bei einer Sonnenfinsternis gar nicht einmal der naturwissenschaftlich erklärbare Vorgang am Himmel. Sondern die Wirkung, die dieses planetarische Geschehen auf uns Menschen hat. Plötzlich erkennen wir, dass wir alle, egal wo wir leben, in gleicher Weise von der Sonne abhängig sind. Ihr Licht wärmt und erhellt unser Leben. Und sein Verlöschen würde für alle und alles das Ende bedeuten.
Ich habe die Sonnenfinsternis im Garten eines kleinen Cafes beobachtet. Eher zufällig, weil ich versäumt hatte, mir eine der zur Betrachtung notwendigen Schutzbrillen zu besorgen.
Anderen ging es genauso. Eine Frau allerdings war unter den Gästen des Cafes, die doch im Besitz einer Schutzbrille war. Sie habe die Brille, sagte sie uns, von der letzten Sonnenfinsternis aufgehoben. Und: wer wolle, dürfe gerne hindurchschauen. Gratis, das sei doch selbstverständlich!
Alle haben das Angebot gerne angenommen. Dankbar für die Großzügigkeit dieser Frau, die gerne weitergab, womit sie in diesem Moment anderen eine Freude machen konnte.
Irgendwie musste ich an Stifters Worte denken: „Es war, als hätte Gott ein deutliches Wort gesprochen...“ War vielleicht Großzügigkeit das Schlüsselwort, nach dem Adalbert Stifter in seiner Geschichte gesucht hatte? Der Hinweis, dass wir Kinder eines Vaters sind, Geschöpfe, die von seinem Licht leben? Und dass wir uns gegenseitig als großzügig erweisen sollen mit den Gaben, die uns geschenkt sind?
Dann hätte uns die Verfinsterung der Sonne – paradoxerweise - eine bleibende Erleuchtung gebracht.

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