SWR3 Gedanken

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Meine kleine Nichte Hannah muss so fünf Jahre alt gewesen sein. Ich durfte sie begleiten auf einen kleinen Spaziergang. Direkt hinter ihrem Haus sind mehrere Kuhwiesen, die in einen kleinen Wald übergehen, zwischen diesen Wiesen gingen wir lang. „Komm mit, Tante Silke, hier entlang“ aufgeregt zieht sie an meiner Hand. Sie nimmt einen Stock als Vergrößerungsglas in die Hand und beginnt den Wegrand eingehend zu erforschen: Stöckchen und Steinchen, verschiedene Gräser, Schnecken und Käfer – alles wird von ihr eingehend und mit Hilfe ihres Vergrößerungsglases untersucht. Hin und wieder reicht sie mir einen besonderen Stein oder ein Blümchen, damit ich auch sehen kann. Es ist, als ob sie nach Hinweisen sucht. „Sag mal, Hannah, was suchen wir eigentlich?“ frage ich meine kleine Nichte. Die fünfjährige Hannah guckt mich ernst an: „Wir sind dem Geheimnis auf der Spur.“
Der Apostel Paulus hat in der Bibel etwas Ähnliches gesagt: „Wir Christen reden von der verborgenen Weisheit Gottes, so wie man von einem Geheimnis redet“ (1 Kor 2,7).
Für mich ist Gott ein Geheimnis, dem wir auf der Spur sind. Dieses Geheimnis übersteigt unsere Vernunft und unser Wissen. Trotzdem reden alle, die Gott suchen, genauso staunend darüber wie meine kleine Nichte. Da wird eine zarte Dotterblume zum Indiz für die Schönheit der Schöpfung, ein grüner Frosch zur heißen Spur auf die Lebendigkeit Gottes und eine Exkursion mit einem Kind zu einer Lehrstunde: Wir sind dem Geheimnis auf der Spur.

Catherine Keller „Über das Geheimnis: Gott erkennen im Werden der Welt. Eine Prozesstheologie“ Verlag Herder 2013

 
https://www.kirche-im-swr.de/?m=19589
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