SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Je kürzer die Tage, je dunkler also das Jahr, desto erstaunlicher das Licht. Dass auch heute die Sonne aufgeht – ist es nicht erstaunlich? Die Azteken z.B. waren derart ent-setzt über den Sonnenuntergang, dass sie riesige Mengen von Menschenopfern darbrach-ten. Man müsse der schlapp gewordenen Sonne neue Lebensenergie zuführen, damit sie ja wieder aufgeht – blutrot und lebensspendend. So dachten sie. Gewiss: unsereiner kann die Vorzüge der künstlichen Beleuchtung Tag und Nacht nutzen. Aber mindestens einen Rest des Erschreckens vor dem Dunkel kennen wir alle. Was ist, wenn die Sonne nicht aufgeht? Unausdenkbar der Schock, wenn es weltweit dunkel würde. Bei einer Son-nenfinsternis war ich in den Alpen: gespenstisch legte sich Dunkel über die Berge, die Vögel verstummten, alles war irgendwie irritiert und verängstigt. Wünschen wir uns des-halb einen guten Morgen? Ist deshalb die Sonne solch ein Zentralsymbol des Göttlichen? „In deinem Licht sehen wir das Licht“, heißt es im Psalm Israels (36,10). Und im Gedicht von Ingeborg Bachmann: „Nichts schöner unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein“ – gerade mitten im November, im Neigungswinkel des Jahres, das immer mehr ins Dun-kel zu entschwinden scheint. Warum denn sonst ist der November der Gedenkmonat der Toten? Nicht wenige haben gerade jetzt mit melancholischen Stimmungen zu tun oder gar depressiven Gefühlen. Um so wunderbarer, keineswegs selbstverständlich ist es, dass schon wieder ein neuer Tag begonnen hat, im Licht der Sonne.
„Würde ich sagen: ‚Finsternis soll mich entdecken, statt Licht soll Nacht mich umgeben’, auch die Finsternis wäre für dich nicht finster“, so betet der Psalm Israels, „die Nacht würde leuchten wie der Tag, die Finsternis wäre wie Licht.“ (Ps 139,11). Selbst im Dunkel noch hält er glaubend an der Leuchtkraft der göttlichen Sonne fest. Die unglaubliche Ver-lässlichkeit der Sonnenenergie draußen wird zum Lebenselixier drinnen. „Morgenglanz der Ewigkeit, Licht vom unerschaffenen Lichte, schick uns diese Morgenzeit deine Strah-len zu Gesichte, und vertreib durch deine Macht unsere Nacht.“ Das wünsche ich Ihnen und mir.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=194
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