SWR2 Wort zum Tag

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Meine Eltern fanden eine gute Erziehung für ihre Kinder wichtig. Sie waren der Ansicht, dass wir niemals beschämt werden sollten, nur weil wir nicht wüssten, wie man Messer und Gabel halten muss. Ihre stehende Redewendung lautete: „So kommt ihr auch beim Bundespräsidenten klar.“ Mitte der 1980er Jahre begegnete ich dann zum ersten Mal dem Bundespräsidenten bei einer ziemlich langweiligen Ausstellungseröffnung. Ich saß neben einem jungen Mädchen, als der Bundespräsident den Raum betrat. Er steuerte ausgerechnet in unsere Richtung, und ich sprang sofort auf. Bundespräsidenten begrüßt niemand im Sitzen. Davon hatte das junge Mädchen neben mir aber offenbar noch nichts gehört. Ich glaube nicht, dass sie frech war, sie war einfach nur unbedarft. Richard von Weizsäcker blieb vor ihrem Sessel stehen. Sie streckte ihm, immer noch sitzend, die Hand entgegen. Allen Umstehenden stockte der Atem. Fremdschämen live. Sie fragte: „Na, wie geht’s denn so?“ - „Ausgezeichnet“ antworte der Bundespräsident, während er mit beherztem Griff die Hand des jungen Mädchens fasste und sie gleichzeitig mit Schwung aus ihrem Sessel zog und auf die Beine stellte. Dann nickte er ihr und allen anderen freundlich zu und machte sich daran, die Ausstellungsstücke in den Schaukästen zu betrachten.
Seitdem hatte Richard von Weizsäcker bei mir einen Stein im Brett. Nicht jeder hat das Glück einer guten Erziehung. Das Wort Höflichkeit kommt vom Hofstaat des Königs, und die Regeln des Hofs beherrschten noch niemals alle Menschen. Das war und ist ein programmierter Klassenunterschied und eine programmierte Beschämung für alle, die die Regeln nicht kennen. Der Bundespräsident hatte sich durch eine schlechterzogene junge Frau nicht blamieren lassen und zugleich das Mädchen nicht bloßgestellt. Stattdessen hatte er mit einer Prise Humor die Situation gerettet. Ich stelle mir vor, wie es um die Stimmung in Deutschland bestellt wäre, wenn alle Menschen sich gegenseitig weiterhelfen würden, wenn es peinlich zu werden droht, statt sich übereinander lustig zu machen. Wenn jeder auf den anderen freundlich achten würde, damit niemand gedemütigt wird. Ich fänd´s himmlisch. Denn gerade so stelle ich mir den Himmel vor: Ein Ort, an dem niemand beschämt wird oder belächelt. Ein Ort, wo Menschen und Gott einfach freundlich zueinander sind.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19320
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