SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Den folgenden Satz würde ich von einem schwer kranken Menschen erwarten. Aber nicht von einem elfjährigen Jungen: Wenn doch der Tag schon vorbei wär. Das denke ich jeden Morgen.

Ich kenne das Gefühl ja auch, wenn ich morgens aufstehe und irgendetwas an dem Tag ansteht, was mir Sorgen macht. Vor allem früher in Prüfungszeiten oder wenn ich einen Vortrag halten muss vor einem Publikum, das ich nicht kenne und von dem ich nicht genau weiß, was es von mir erwartet. Oder wenn ein schwieriges Gespräch ansteht oder eine Vorsorgeuntersuchung beim Arzt. Dann denke ich ja auch, ich bin froh, wenn das vorbei und gut gegangen ist. Aber dass ich jeden Morgen solche Gedanken habe, das kenne ich zum Glück nicht. Und ich wünsche das niemandem, keinem jungen und keinem alten Menschen. Dieser Junge war bei mir, damit wir das ändern und dazu gibt es ja auch Möglichkeiten. Ich habe mit ihm besprochen, dass er ausprobiert, den Gedanken sofort durch ein „ich schaff das“ zu ersetzen, wenn er aufkommt.

Eine Möglichkeit, die man ausprobieren kann, setzt am Abend davor Morgen an. Ich kann mir da nämlich schon Gedanken machen über das, was morgen alles dran ist. Wenn ich so den morgigen Tag wie in einem inneren Film durchgehe, kann das verschiedenes bewirken: Zum einen kann ich das dumpfe Gefühl loswerden, wenn mich etwas von morgen drückt, ich aber noch nicht genau weiß, was es ist. Bei mir ist es jedenfalls so, dass mir dann erst bewusst wird, wo morgen die schwierigen Aufgaben liegen, aber auch wo es vielleicht Lichtblicke gibt.

Und die führen mich ja weiter, denn ich denke dann ja auch daran, was nach dem Schwierigen kommt und das ist ja der Abend, an dem ich es geschafft habe. Vielleicht nicht perfekt, aber es wird dann hinter mir liegen. Und es wird dann etwas Anderes, Neues kommen. Diese Klarheit und die Aussicht auf ein Danach, das ist es vermutlich, was motivierend wirkt. Und wenn ich es dann noch schaffe, diesen Tag der morgen kommen wird, vor dem Einschlafen in Gottes Hand zu legen, dann kann ich vielleicht so schlafen, dass ich’s erholt anpacken kann. Was morgen kommt, kann ich jetzt sowieso noch nicht steuern, aber ich kann mich gedanklich dafür stärken.

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