SWR4 Abendgedanken

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Der Psychotherapeut Carl Rogers hat gesagt: „Die Keimzelle aller psychischen Krankheiten ist die Familie.“ Als ich das zum ersten Mal gelesen habe, hat es mich schon schockiert: Die Familie, der Ort, an dem ich aufgewachsen bin und Geborgenheit, Vertrauen und Lebensmut gelernt habe, soll also verstörend wirken oder (sogar) krank machen.

Und ich glaube, dass da was dran ist. Mal ganz abgesehen von den Genen, die wir ja aus der Herkunftsfamilie haben und die unsere Verfasstheit beeinflussen. Aber allein schon, wenn ich an die Kinder denke, die ich in der Schule treffe/unterrichte. Wenn ich sehe, wie der Druck, den sie von zuhause bekommen, sie dazu bringen kann, dass sie sich für Versager halten. Oder wenn ich die sogenannten Helicopter-Eltern sehe, die es wirklich so gibt: Sie leben in der Angst, bei der Erziehung ihrer Kinder etwas falsch zu machen. Um das zu verhindern, beschützen sie ihre Kinder im Übermaß. Und schaffen es nicht, sie in die Selbständigkeit zu entlassen. Und das führt dazu, dass die Kinder sich nicht zutrauen, ihre Lebensaufgaben zu packen. Ganz zu schweigen, von Eltern, die ihre Kinder schlagen. Vermutlich, weil sie überfordert sind und nicht wissen, wie sie mit ihren Kindern so umgehen können, dass diese aufrichtig und erfolgreich durchs Leben gehen können. Und dann sind da ja noch die, die ihre Erwachsenenkonflikte auf dem Rücken der Kinder austragen. Dass all das krank machen oder verstörend wirken kann, ist ja beinahe schon zwingend logisch.

Als Christ beschäftigt mich das, weil die Kirche unentwegt betont, dass Familie das Wichtigste für unsere Gesellschaft und die Menschen ist. Natürlich nur die perfekte Familie. Obwohl es die in der Wirklichkeit, gar nicht so oft gibt. Und in den Geschichten der Bibel auch nicht. Jesus selbst wird in ziemlich unklaren Familienverhältnissen geboren. Die Eltern nicht verheiratet, der Vater taucht in den Erzählungen kaum auf.

Der Psychologe Rogers hat sicher nicht gewollt, dass wir die Familien abschaffen. Das können wir ja auch nicht. Unsere lebenslange Sehnsucht nach Geborgenheit und Beziehung drängt uns in ein familienähnliches System. Aber ich möchte mich verabschieden von dem Druck, dass Familien etwas Heiliges oder Perfektes sein müssen. Ich glaube nämlich, dass die Abkehr vom Ideal der perfekten Familie Menschen erst lebensfähig macht. Dann nämlich, wenn ich ehrlich mit den anderen umgehe, meine Fehler nicht verstecke und die Fehler der anderen ertrage. Keiner ist perfekt und keiner muss perfekt sein. Das zu wissen, macht mich stark fürs Leben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19271
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