SWR2 Wort zum Tag

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Eine Patientin bringt es auf den Punkt: „Wenn es Ihnen nichts ausmacht“, sagt sie, „dann werde ich Sie jetzt als Klagmauer benutzen.“ Und das heißt soviel wie: ich kippe ihnen jetzt mal alles vor die Füße, was mir  Unangenehmes durch Kopf  und Herz geht. Ich will gar nicht abwägen und ausgeglichen sein – ich will einfach nur klagen dürfen. Und am besten: Sie sagen jetzt mal nichts und hören nur zu.
So eine Klagemauer ist eine geniale Idee: Anders als Menschen hält sie Stand – was immer ihr geklagt wird. Sie ist aus festem Stein. Ihr kommen keine Tränen, sie zeigt eben kein Mitgefühl – was es den Kranken ja oft nicht leichter, sondern schwerer macht. Sie zergrübelt sich nicht den Kopf um eine Antwort zu finden auf die Frage: Warum? Sie verwechselt nicht die Klage mit einem Problem. Wenn jemand sagt: Warum? Warum gerade ich? da kommt so eine Klagemauer nicht auf die Idee, Gründe und Argumente zu liefern. Denn würde eine Antwort weiterhelfen? Ist dies Warum? Warum gerade ich? überhaupt eine Frage – und nicht vielmehr eine Klage?
Wer klagt, zerbricht sich nicht den Kopf darüber, dass er nichts Neues zu sagen hat. Die Klage wiederholt. „Der Schmerz wird neu. Es wiederholt die Klage des Lebens labyrintisch irren Lauf“, heißt es bei Goethe. Die Klage wiederholt  was geschehen ist, versucht es zu beschreiben. Vor allem: sie  wiederholt das Unverstehbare, „des Lebens labyrintisch irren Lauf“, den niemand genau planen und vorhersehen kann. In dem einem zustößt, was man einfach nur hinnehmen muss. Und davon gibt es reichlich in so einem Menschenleben.
Kein Wunder, dass es in der Bibel so viele Klagepsalmen gibt. „Höre auf meine Klage, denn ich werde sehr geplagt.“ heißt es in einem Psalm. In einem Anderen: „Ich bin ausgeschüttete wie Wasser, meine Knochen haben sich voneinander gelöst.“ Ich kann all meine Knochen zählen. Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe – ich hab keine Kraft mehr, ich fühle mich zerschlagen. Und schließlich die Klage aller Klagen: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ In immer neuen Wendungen wird in den Psalmen altes Leid geklagt.
Klagemauern haben Geduld. Mehr, als Menschen, denen geklagt wird und die nörgelig einwenden: „Hör endlich auf mit dem Jammern, beiß die Zähne zusammen.“
Klagemauern haben viele Vorteile. Und nur einen einzigen Nachteil: Si können den, der klagt nicht in den Arm nehmen. Das können nur Menschen, denen es nichts ausmacht, einfach mal als Klagemauer herzuhalten.

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