SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Mitten in der Fußgängerzone schmeißt sich der Kleine einfach aufs Pflaster. Ratlos steht die Mutter daneben, während ihr Sohn, der so ungefähr fünf Jahre alt ist, mit den Füßen strampelt, mit den Fäusten um sich haut und dabei schreit wie am Spieß. Ganz offensichtlich hat das Kind einen Riesenzorn. Keine Ahnung, warum. Aber an der Frequenz seines Brüllens hört man es deutlich: Der hat sich nicht wehgetan, der ist einfach richtig wütend.
Die Passanten machen einen großen Bogen um den kleinen Zornnickel und seine hilflose Mutter. Manche schütteln den Kopf. Andere betrachten das Kind, als würden ihm gleich Hörner wachsen. Und eine Frau hinter mir murmelt leise: „Mein Gott, kann die das Kind nicht beruhigen? Da platzt einem ja das Trommelfell.“
Ich betrachte den Kleinen offen gestanden fast ein bisschen neidisch. Manchmal würde ich mich als erwachsener Mensch auch gerne mal auf den Boden schmeißen und schreien, was das Zeug hält. Weil ich ja noch immer weiß, wie sich ein Riesenzorn anfühlt. Aber als Erwachsener macht man gute Miene zum bösen Spiel, schluckt den Zorn herunter. Und schreit bestenfalls ein bisschen im Auto rum, wenn es keiner hört.
In der Bibel gibt es hundertfünfzig Psalmen. Und die strotzen nur so vor starken Gefühlen. Auch vor Zorn. Da schreien Menschen ihren Ärger an den Himmel, klagen lauthals ihre Not. Keine Spur von Selbstkontrolle oder Selbstverleugnung. Menschsein pur von Glück bis Zorn. Vor Gott kann man sich das erlauben. Daran glaube ich.
Weil Gott uns Menschen kennt. Und weiß, was in unserer Seele vorgeht. Und dass diese Seele manchmal ein Ventil braucht. Und sei es für einen Riesenzorn. Oder ein Riesenglück. Oder ein Riesenleid. Mag sein, dass eine Fußgängerzone kein guter Platz ist, um der Seele Luft zu verschaffen. Aber das Leben fällt mir deutlich leichter, wenn ich weiß, dass es einen Ort gibt, wo ich das nicht muss. Wo meine Seele ihr Ventil öffnen kann. Und vor Gott ist dieser Ort.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19161
weiterlesen...