SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Unsere Reisegruppe ist an der Küste des Mittelmeers unterwegs. Da sehen wir auf einmal ein kleines Schäfchen am Wegesrand. Es steht verlassen da. Es blökt und sieht hilflos aus. Wir wollen dem Lamm gerne helfen. Bald finden wir die Herde und auch den Hirten. Er ist ein gemütlicher Mann mit grauen Haaren und lacht nur. Er gibt uns zu verstehen: Auf dieses kleine Lamm kann ich gut verzichten. Meine Schafe haben in der letzten Zeit so viele Lämmer geboren. Wenn ab und zu eines verloren geht, kann ich nicht jedes Mal losrennen und suchen. Unsere Reisegruppe ist geschockt: Am liebsten hätten wir das Schäfchen ins Tierheim gebracht.

 Wie anders  handelt ein Hirte in einer Geschichte aus der Bibel. Jesus erzählt von einem, der hundert Schafe hat. Als er eines davon vermisst, lässt er die neunundneunzig anderen in der Steppe zurück. Er riskiert alles für dieses eine Schaf.

Jeder erfahrene Hirte würde bei dieser Geschichte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und so reagieren wie der, den wir getroffen haben. Er würde nie die ganze Herde allein in der Steppe zurücklassen. Denn: Was ist, wenn das Schaf längst gefressen wurde? Dann läuft  er vergeblich durch die Gegend – während ein Dieb oder wilde Tiere seine Herde überfallen könnten.

Doch in der Bibel geht die Geschichte vom waghalsigen Hirten gut aus: Er sucht und sucht, bis er das Schaf findet. Dann nimmt er es voll Freude auf die Schultern, um es nach Hause zu tragen. Dort trommelt er seine Freunde und Nachbarn zusammen. Er ruft ihnen zu: Freut euch mit mir; ich habe mein Schaf wiedergefunden.

Diese Geschichte könnte ein Sinnbild für unsere heutige Gesellschaft sein. Werden da nicht auch viele zurückgelassen? Menschen, von denen es heißt: Für die lohnt es sich nicht mehr. Menschen, die nicht genug verdienen oder die gar keine Arbeit haben. Jugendliche ohne Schulabschluss oder Flüchtlinge.

Die belasten doch nur die Sozialkassen! Einfacher wäre es, sich nur um die anderen zu kümmern. Um die, bei denen alles glatt läuft. Alles andere rechnet sich nicht.

Jesus wirbt für einen anderen Weg. Für eine Gesellschaft, die keinen Menschen verloren gibt. Eine Gesellschaft, in der jeder darauf vertrauen kann: Ich werde nicht fallen gelassen – auch wenn ich mal den Weg verloren habe.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=19027
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