SWR2 Wort zum Tag

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„Wenn bei uns Krieg wäre, wohin würdest du gehen?“, so fragt die Autorin Janne Teller in einer Erzählung. Sie bringt mich als Leserin dazu, mich zu fragen: Wie würde es sich anfühlen, wenn ich weg müsste aus meinem Haus, meiner Stadt, alles zurücklassen…
Tausende von Menschen erleben das derzeit täglich. Auch für Jesus stand am Beginn seines Lebens die Erfahrung der Flucht. Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten!“, befiehlt der Engel Josef.
Manche von Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, wissen sehr gut, was das bedeutet. Sie haben das Elend der Flucht selbst erlebt. Ich dagegen kann nicht ermessen, was das heißt. Deshalb hat mich die kurze Erzählung von Janne Teller sehr beeindruckt.
In Europa, so ihr Szenario, herrscht Krieg. Die Häuser sind zerbombt, die Sicherheitslage ist katastrophal. Aus der Perspektive eines Jugendlichen aus einer Professorenfamilie beschreibt sie, wie seine Familie alles daransetzt, das Land verlassen zu können. Aber wohin? Im arabischen Raum herrscht in Janne Tellers Erzählung Frieden. Aber hat die Familie eine Chance, dorthin zu gelangen? 
„Eure Familie ist zu einer Zahl geworden“, beschreibt die Autorin die Situation. „Fünf! Es gibt kein Land das fünf weitere Flüchtlinge haben will. Flüchtlinge, die die Sprache nicht beherrschen, die nicht wissen, wie man sich in einer klassischen Kulturgesellschaft benimmt […].Arbeiten können sie auch nicht. […] Flüchtlinge aus Europa können nichts anderes als in Büros sitzen und Papiere umdrehen. Das braucht man nirgends.“ (S. 14f)
Schließlich gelangt die Familie doch nach Ägypten, in Sicherheit. Einige Zeit leben sie im Flüchtlingslager, bleiben schließlich ganz, bauen eine Existenz auf.
„Du gewöhnst dich daran, Kuchen zu verkaufen. […] Du gewöhnst dich an die extreme Hitze. Daran, als Mensch dritter Klasse behandelt zu werden, gewöhnst du dich nie.“ (S. 36)
Mir hat Tellers Erzählung noch einmal neu die Augen geöffnet.  Dafür, wie schnell Urteile über Zuwanderer gefällt sind – und wie es wäre, wenn wir so beurteilt würden. Und dafür, was für ein großer Unterschied besteht zwischen bleiben dürfen und willkommen sein.
Jesus und seine Familie konnten bald aus Ägypten zurückkehren. Die Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, werden meist lange bleiben. An vielen Orten helfen Menschen schon freiwillig, sie willkommen zu heißen und ihnen beim Neustart in Deutschland zu helfen. Janne Teller hat mir noch einmal gezeigt, wie wichtig das ist.

Janne Teller, Krieg. Stell dir vor, er wäre hier, Carl Hanser Verlag, München 2011.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18930
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