SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Im vergangenen November gab es wieder eine Bombenentschärfung in Mainz. Immer wieder findet man Bomben aus dem zweiten Weltkrieg. Bei Erdarbeiten in unseren Städten tauchen solche Altlasten auf. Manchmal lassen sie sich nicht so einfach entschärfen. Dann muss man sie zünden, gezielt sprengen, um sicher zu gehen, dass sie nicht von selbst losgehen und nach Jahrzehnten noch verheerenden Schaden anrichten.
Daran muss ich denken, als ich bei einem Besuch dem alten Herrn begegne. Seine Erinnerung wohnt mehr und mehr in der Vergangenheit und verlässt die Gegenwart. Wie ein Sprengkörper aus längst vergangener Zeit, taucht da im Gespräch mit ihm auf, was ihn beschäftigt. Seine Erlebnisse aus dem Krieg. Was Jahrzehnte lang nicht ausgesprochen wurde. Was niemand hören mochte. Vielleicht auch, was er selbst vorher nicht aussprechen konnte. Vergraben, verschüttet. Jetzt kommt es zum Vorschein.
„Opa ist dement.“ Sagt der Enkel. „Der lebt nur noch in der Vergangenheit.“
Da lagern Dinge in der Tiefe der Erinnerung, an die niemand gerne rührt. Auf dem Grund ihrer Seele tragen viele Menschen an alten, schweren Lasten. Es gab Momente, Zeiten, die sich bei ihnen tief eingebrannt haben: Offene Fragen, auch vergebene Schuld, der Blick in den Abgrund, die eigene, verletzte Seele. Die eines anderen Menschen. Es kann zuweilen besser sein, sich diesen inneren Angelegenheiten nicht ständig aussetzen zu müssen. Aber manchmal tut es auch gut, wenn es eines Tages ausgesprochen werden darf. Beim Graben in alten Erlebnissen. Jetzt, nach Jahrzehnten scheint die Zeit gekommen, über Furcht zu sprechen. Endlich! Über Sorge. Über Todesangst. Über Rettung in letzter Sekunde. Über den Tod der Kameraden.
„Mache dich auf, werde Licht, denn dein Licht kommt.“ (Jes 60,1) So hat vor vielen  hundert Jahren ein Gottesmann - Jesaja - seinen Landsleuten zugerufen. Hat sie ermutigt, selber Dinge ans Licht zu holen, die  im Verborgenen liegen, um sich vielleicht endgültig davon frei zu machen.  Wie die Bauleute, die die Bombenblindgänger für alle Zeiten wegräumen. Hoffentlich finden die alten Leute jemanden, der ihnen zuhört und sie ermutigt wie Jesaja, wenn sie das brauchen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18922
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