SWR4 Abendgedanken

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Zum Advent eine Geschichte von Aljoscha, Gottes kleinem Lieblingsengel

Wäre er kein Engel, Aljoscha würde ihn jetzt

besonders vermissen. Gottes kleiner Lieblingsengel

schaute auf den leeren Platz vor dem Trierer Dom.

Dort hatte er so oft gesessen: der „Dombettler“, wie

ihn alle nannten. Er gehörte zum Dom wie der Domstein

und die Domglocken. Aber er saß nicht mehr da

da. Vor zwei Jahren war er gestorben.

Wäre er noch da, dann sähe man seinen Platz

jetzt im Advent entsprechend geschmückt, mit Kerzen,

Adventskranz, einem kleinen Christbaum. Zu

jeder Jahreszeit hatte er seinen Platz neu arrangiert

und immer etwas für die kleine Spende, die er von

den Dombesuchern erhoffte, geboten. Und er hatte

aufgepasst: Bier trinkende oder etwas übersichtlich

bekleidete Touristen bekamen höflich, aber unmissverständlich-

deutlich von ihm eine Ansage: „Das ist

ein Gotteshaus. So geht das nicht …“

Der Dombettler. Wie er mit richtigem Namen

hieß, wussten die wenigsten, wie der kleine Engel

immer mit leichter Verärgerung bemerkt hatte.

Selbst manch wichtige Domherren passierten ihn,

grüßten ihn freundlich, ließen auch manche Spende

dort, aber die Quizfrage nach dem Namen des Dombettlers

von Trier hätten nicht alle beantworten können.

Er war halt der Dombettler.

Aljoscha war froh, dass auch im Himmel der

Name eine wichtige Rolle spielt und er eben nicht

bloß Engel 5673/Z war, sondern unvergleichbar Aljoscha

hieß. Schließlich waren ja alle, auch die Menschen,

mit Namen in die Hand des Allmächtigen geschrieben.

Deshalb erinnerte er sich gerne daran,

dass die Zeitung damals beim Tod des Dombettlers

einen kleinen Artikel veröffentlicht hatte, mit Bild –

und vollem Namen.

Aljoscha setzte sich unbemerkt auf die alte

Stelle des Bettlers, flüsterte leise dessen Vornamen,

„Gunter“, und dachte an die Menschen, für deren Namen

sich niemand interessiert und die sich in der

kommenden weihnachtlichen Zeit besonders einsam

fühlen würden. Und da auch Engel sich im Advent

etwas wünschen dürfen, schickte er für sie eine Segensbitte

in den Himmel und wünschte sich, dass

doch einige Menschen diese Zeit dazu nutzen würden,

um nachzudenken, wer in ihrer Straße vielleicht

sehr froh wäre über ein Wort,

eine Anrede oder über einen kleinen Gruß.

Aljoscha war sich sicher, dass den meisten

Menschen jemand einfallen würde. Nachdenklich

sah er dem geschäftigen Treiben auf dem gegenüberliegenden

Adventsmarkt zu und hoffte aus ganzem

Herzen, dass es solche Geschenke, die kein Geld, nur

vielleicht Mut und Überwindung kosten, doch in ordentlicher

Anzahl geben möge.

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