SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

05DEZ2014
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Jetzt

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Ich schaue auf meine Uhr und da steht JETZT. Egal wann, morgens, mittags, abends oder auch nachts. Immer steht es da. Dezent, nicht aufdringlich: schlichte, schwarze Buchstaben auf weißem Grund: JETZT. Ich habe eine Uhr, die mir laufend sagt: Jetzt ist gerade jetzt. Was macht das denn für einen Sinn? Eine Uhr trage ich doch, um zu wissen, wie spät es gerade ist. Habe ich noch etwas Zeit oder muss ich schon los. Das kann die Uhr natürlich auch. Ich hätte sie mir vermutlich trotzdem nicht gekauft. Ich habe sie geschenkt bekommen.

Das Besondere an der neuen Uhr ist, sie führt mir immer vor Augen: Die einzige Zeit, die ich wirklich zu Verfügung habe, ist jetzt. Das wusste ich auch schon vorher, aber jetzt wird es mir viel öfter bewusst. Vor allem, weil ich so oft nicht im Hier und Jetzt lebe. Weil ich mit meinen Gedanken woanders bin als im Moment. Ich komme abends nach Hause und habe endlich Zeit für die Kinder. Innerlich bin ich aber noch mit irgendwelchen Sachen von der Arbeit beschäftigt. Anstatt die Zeit mit ihnen zu genießen, denke ich an unerledigte Aufgaben oder an Dinge, die ich hätte anders machen sollen. Und dann bin ich ungeduldig, wenn es mal wieder nicht so läuft, wie geplant: Wann können wir endlich die Zähne putzen? Warum gibt es schon wieder Geschrei beim Schlafanzug anziehen? Es kann mir dann nicht schnell genug gehen.

Aber meine beiden Kinder wissen genau: Jetzt in diesem Moment gibt es viel Wichtigeres zu tun: nur noch einmal mit der Eisenbahn spielen – nur dieses eine Buch noch anschauen. Ein Blick auf die Uhr sagt mir dann nicht nur: Jetzt ist aber wirklich Zeit, ins Bett zu gehen. Vielmehr lese ich das Wort Jetzt. Dann wird mir klar, dass meine kleinen Kinder große Lehrmeister sind, wenn es darum geht, ganz in der Gegenwart zu leben. Diese Kunst geht uns Erwachsenen irgendwann verloren, und wir müssen sie wieder neu lernen. Und ich bin fest davon überzeugt, es lohnt sich, diese Kunst zu erlernen.

Ein erster Schritt dazu ist für mich: immer mal wieder kurz innehalten. Wahrnehmen, wo ich mit meinen Gedanken gerade bin und mich dann bewusst entscheiden, worauf möchte ich meine Aufmerksamkeit jetzt in diesem Moment richten. Immer wenn es mir gelingt, wirklich im Augenblick zu leben, spüre ich, ich bin aufnahmefähiger, für das, was um mich herum geschieht. Ich begegne Menschen und Dingen viel bewusster und viel wacher und erlebe mich dadurch offener und gelassener. Ich habe mehr Zeit, weil ich genau die Zeit nutze, die mir gerade zur Verfügung steht. Jetzt.

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