Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Niemand ist tolerant so nebenbei. Für Toleranz braucht man Zeit. Braucht Leerlauf und Muße. Nicht erst am Wochenende oder im Urlaub. Mitten im Alltagsgeschäft. Ich glaube: Das geht allen gegen den Strich, die stolz darauf sind, ihren Arbeitstag so richtig optimiert zu haben.
Und das soll man ja, raten alle Coaches. Den Tag planen und durchtakten. Im Büro von dann bis dann Telefonate, Mails, Besprechungen abhalten. Oder zu Hause: Kochen, waschen, putzen- alles in einem vorgegebenen Zeitfenster. Keine unnötigen Wege, kein Bummeln zwischen Termin A und Termin B, kein Labern bei den Besprechungen. Eben: effizient. Ich kenne das. Ein super Gefühl, wenn man am Abend alles geschafft hat. Es darf nur nichts dazwischen kommen. Oder Jemand.
Das ist mir im Urlaub aufgefallen. Da stand ich an der Kasse, eigentlich viel zu lang schon. Und dann hat doch ein Mann vor mir vergessen, seine Äpfel abzuwiegen. Also macht er sich auf den Weg zur Waage, sucht umständlich das Knöpfchen mit den Äpfeln drauf, kommt wieder zurück, holt sein Geld aus der Tasche. Normalerweise schwillt mir da mächtig der Kamm. „Kann der nicht einkaufen, wenn im Laden nichts los ist? Jetzt komm ich seinetwegen zu spät!“ So hätte ich mich normalerweise in meinen Ärger hineingesteigert. Aber jetzt, im Urlaub, nichts davon. Stattdessen höre ich mich sagen: „Kein Problem, ist mir auch schon passiert. So viel Zeit muss sein.“
Ja, so viel Zeit muss sein. Zeit für Störungen, für Irritationen. Zeit für Menschen. Die nun mal keine Roboter sind und nie reibungslos funktionieren. Zeit für das ganz normale Leben. Mit verschusselten Apfelabwiegern, mit Labertaschen und Spätzündern.
Mir hilft’s, wenn ich mich daran erinnere: dass Lebenszeit nichts ist, was man sich verdienen könnte. Lebenszeit ist ein Geschenk. Ich gebe nur weiter, was ich geschenkt bekommen habe. Ich glaube, Gott wird mich am Ende nicht fragen, wie sehr es mir gelungen ist, meinen Alltag zu optimieren. Am Ende werde ich gefragt, ob in meiner Zeit auch Platz für Leute war, die mir gegen den Strich gegangen sind.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18676
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