SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

 „Toleranz“ ist der Leitgedanke, unter den die ARD viele Sendungen in dieser Woche gestellt hat. Auch einen Slogan gibt es dafür: „Ein bisschen mehr Lockerheit.“ Ich gebe zu, dass es im Alltag schon viel wäre, andere Menschen etwas offener so zu nehmen, wie sie sind.

Aber Toleranz meint mehr als ein bisschen Alltagsgelassenheit im Umgang mit den Mitmenschen. Im persönlichen Leben bedeutet für mich Toleranz, grundsätzlich zu respektieren, wie andere leben, was sie denken, was sie glauben. Gesellschaftlich drückt Toleranz sich aus in einer Verfassung, die jedem einzelnen Freiheitsrechte garantiert: Gedanken- und Gewissensfreiheit etwa oder auch Religionsfreiheit.

Was es bedeutet, wenn solche Menschenrechte missachtet und mit Füßen getreten werden, erleben wir gerade weltweit in erschreckendem Ausmaß. Im Namen fanatischer religiöser Vorstellungen und aus religiös verbrämter Machtgier lehnen Menschen andere Menschen ab, verurteilen, vertreiben und ermorden sie. Ganze Gesellschaften werden dadurch zerstört.

Ich habe das selbst in diesem Herbst bei einer Reise in den Nordirak erlebt. Dorthin sind Hunderttausende Christen und Angehörige der kleinen Religionsgemeinschaft der Yeziden geflohen. Islamistische Banden terrorisieren sie. Viele Jahrhunderte lang haben Christen und Yeziden im Land zwischen Euphrat und Tigris mit ihren muslimischen Nachbarn zusammengelebt – nicht immer spannungsfrei, aber in gegenseitiger Toleranz. Die Christen der unterschiedlichen orientalischen Kirchen betrachten sich selbst als die Ureinwohner dieses Landes, das seit den frühesten Zeiten des Christentums ihre Heimat ist. Die chaldäischen Christen sprechen in ihren Gottesdiensten noch aramäisch, die Sprache Jesu. Jetzt müssen sie erleben, dass sie hier bedroht und vertrieben werden. Eine uralte Kultur gemeinsamen Lebens in religiöser Vielfalt soll vernichtet werden.

Wir sollten nicht überheblich sein. Auch Europa war noch vor wenigen Jahrhunderten von Glaubenskriegen zwischen Christen zerrissen. Es war ein langer Weg bis heute, wo in unserer Verfassung der Anspruch verankert ist, unser Leben frei zu gestalten. Und erst beim Zweiten Vatikanischen Konzil konnte die katholische Kirche nichtchristliche Religionen anerkennen und sich zur Glaubens- und Gewissensfreiheit jedes Einzelnen bekennen. Bis heute tun wir uns oft  schwer, Lebensformen zu respektieren, die von hergebrachten Normen abweichen. Toleranz geht nicht automatisch. Sie beginnt damit, dass ich den anderen Menschen so verstehen und achten will, wie er sich selbst versteht. Das ist beileibe nicht einfach.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18620
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