SWR2 Wort zum Tag

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„Ein Fremder“, so sagt die jüdische Lyrikerin Nelly Sachs in einem erschütternden Gedicht, „ein Fremder hat immer / seine Heimat im Arm / wie eine Waise / für die er vielleicht nichts / als ein Grab sucht.“

Nelly Sachs, die sich und ihre Mutter selbst gerade noch rechtzeitig vor den nationalsozialistischen Verfolgern ins schwedische Exil retten konnte, weiß, wovon sie spricht. Sie kennt die Sprache der Sehnsucht; sie weiß um die Not, fremd, vertrieben, heimatlos zu sein.

Dieses Gedicht hat mich immer schon bewegt. Jetzt ist es neu für mich konkret geworden, als ich vor kurzem in der nordirakischen Provinz Kurdistan gewesen bin. Dorthin ist vor wenigen Wochen fast eine Million Menschen vor dem Terror der IS-Milizen geflohen: Christen, Angehörige der aus vorchristlicher Zeit kommenden yezidischen Religionsgemeinschaft, schiitische Muslime und auch Sunniten, die ihren christlichen Nachbarn geholfen und sich selbst in Lebensgefahr gebracht hatten. Diese Menschen sind Fremde im eigenen Land. Sie leben in provisorischen Zeltstädten, in Rohbauten, in leer geräumten Schulen, Kirchen und Moscheen; sie kampieren unter Brücken und in Verschlägen entlang den Straßen und fürchten den nahen Winter.

Allein 40.000 Vertriebene sind in der kurdischen Hauptstadt Erbil notdürftig untergebracht. Dort werde ich in einem völlig überfüllten Rohbau von einer erregten Menschenmenge umringt. „Unsere Kinder und wir haben keine Zukunft mehr“, sagt ein Mann, der seit seiner Flucht aus einem christlichen Dorf vor vielen Wochen dasselbe Gewand auf dem Leib trägt. „Wohin sollen wir gehen?“ Und ein yezidischer Greis, dessen Gemeinschaft vom Völkermord bedroht ist, sagt: „Man will uns hier nicht mehr, und niemand hilft uns.“

Sie haben alles verloren. Aber das Schlimmste ist vielleicht: Sie haben mit ihrer Heimat auch die Hoffnung verloren. Was einem Menschen äußeren und inneren Halt und Geborgenheit geben kann, wurde zunichte gemacht. „Ein Fremder hat immer / seine Heimat im Arm / wie eine Waise / für die er vielleicht nichts / als ein Grab sucht.“

Ich habe mich bei solchen Begegnungen sehr hilflos gefühlt. Diese Menschen haben mich gebeten, dass ich zuhause von ihnen berichte, damit sie nicht vergessen werden. Das war das einzige, was ich ihnen versprechen konnte.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18619
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