SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Es gibt falsche Tugenden. Eine lautet: „Man muss stark und unerschrocken durchs Leben gehen. Wer Angst hat, ist ein Feigling.“ Ich habe das lange Zeit auch geglaubt. Als Kind war es für mich immer hart, an die Grenze meiner Angst geführt zu werden und einsehen zu müssen: Du bist eben doch ein Angsthase. Kinder haben mit ihren „Mutproben“ ja wirksame Spiele entwickelt, um das rasch herauszufinden – eine Art „Angstdetektor“. Wurde meine kindliche Angst entdeckt, war mir das peinlich.
Heute weiß ich: das Ideal von der Angstfreiheit ist eine Lüge. Eine Selbsttäuschung. Ich kenne keinen Menschen, der von sich ehrlich sagen könnte, er sei ganz und gar angstfrei. Angst gehört zum Mensch-Sein mit dazu. Sie ist sogar sehr wichtig. Die Angst zeigt mir meine Grenzen auf. Sie sagt mir, wie weit ich gehen darf; wann ein Risiko zu groß wird. Wer diese Stimme nicht hört und versteht, begibt sich in Lebensgefahr.
Das Wort „Angst“ hat ursprünglich mit „Enge“ zu tun. Es hängt zusammen mit der Enge in der Kehle, die mir die Luft abschnürt. Mit der Ur-Erfahrung, Atemnot zu bekommen. Das ist die Chance, die in der Angst liegt, wenn sie richtig verstanden wird – dass sie mich warnt.
Natürlich hat die Angst auch eine gefährliche und zerstörerische Seite. Sie kann mich lähmen und handlungsunfähig machen. Prüfungsängste zum Beispiel können sich so weit steigern, dass die Prüfung wirklich in einem Desaster endet. Dann ist es gut, wenn ich die Angst in den Griff kriege. Wenn ich ihr etwas entgegensetzen kann.
Ich will meine Angst nicht herunterspielen. Ich nehme sie wahr. Aber ich halte ihr auch etwas entgegen. Das Gegenteil von Angst ist Mut. Mut ist nicht Waghalsigkeit, sondern Bereitschaft zum Handeln. Mut bedeutet: Ich sehe die Gefahr, das Risiko, aber ich weiß, dass ich die Herausforderung bewältigen kann.
Doch wie kommt man von der Angst zum Mut? Von der Verzagtheit zur Tatkraft? Meistens brauche ich in Situationen, in denen es eng wird, Ermutigung, das heißt jemanden, der mir Mut zuspricht. Dies ist der Sinn all jener Bibelstellen, in denen es heißt: „Fürchte dich nicht!“ Es ist ein Zuspruch für Menschen, die an ihre Grenzen kommen. Ein Zuspruch zum Lebensmut. Gott spricht das zu. Er spricht es mir zu. Der Gott, der mich geschaffen hat und mich kennt – mit meinen Schwächen und Stärken, mit meiner Angst und meinem Mut.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18486
weiterlesen...