Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Autofahren, stundenlang. „Wann sind wir endlich da?“ Irgendwann ist den Kindern aufgefallen, dass die Wolken was hergeben und sie spielen ein vertrautes Spiel: In der Wolke was ganz anderes erkennen. „Die sieht aus wie eine Birne“! „Guck mal, seht ihr die Elefantenwolke?“ -  „Ich habe einen Drachen gesehen.“ - „Was, wo denn?“
Wir Erwachsenen: total aufs Fahren oder auf die Campingplatzsuche fixiert, während die Kinder längst in ganz anderen Welten unterwegs sind.
Eine ganz normale Wolke, und auf einmal öffnet sich eine ganz neue Welt von Gegenständen, phantastischen Gestalten, von Wesen und Formen. Etwas erkennen, wo andere nichts erkennen.
Ich finde, dieses Spiel ist nicht nur ein schöner Zeitvertreib. Irgendwie geht es doch im ganzen Leben darum: was erkenne ich in bestimmten Menschen, in bestimmten Ereignissen, wo erkenne ich mehr, als ich erwartet hätte?
Es gibt da eine Geschichte, wo zwei Männer auf dem Meer verloren schienen. Sie waren weit abgetrieben mit ihrem kleinen Ruderboot, erschöpft, kein Land in Sicht, keine Verbindung zum Festland, keine Vorräte, nur Meer und Angst. Ein Sturm scheint nahe. Vielleicht haben sie beide heimlich gebetet. Auf jeden Fall: Ein Boot taucht irgendwann wie aus dem Nichts auf. Der eine ruft „Gott sei Dank!“ – beide werden gerettet. Der eine sieht darin die Hilfe, die Gott in letzter Minute schickt, der andere meint: „Blödsinn. Wir haben einfach nur Glück gehabt.“
Beide speichern das Erlebnis total unterschiedlich ab. Und ich habe gedacht, als ich die Geschichte gehört habe: Wahrscheinlich ist es wie mit den Wolken. In vielem kann ich auf den zweiten Blick Neues sehen, in einem Menschen andere Seiten entdecken und in manchen Erlebnissen auch den Fingerzeig Gottes erkennen.
Etwas erkennen, wo andere nichts Besonderes sehen. Ich finde, das ist eine gute Übung. Weil so das Leben tiefer wird und ich mich für manches dankbar fühle, was ich sonst als selbstverständlich abtun würde. Vielleicht ist ja schon der nächste Mensch, der mir heute begegnet, eigentlich ganz anders, als ich ihn auf dem ersten Blick sehe. Es lohnt sich, zweimal hinzuschauen - nicht nur bei den Wolken!

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