SWR2 Wort zum Tag

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Es klingt wie eine moderne Anweisung gegen Stress und Burnout. Und ist doch ein Ratschlag, der viele hundert Jahre alt ist. Er stammt von Bernhard von Clairvaux und lautet:
„Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale, nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene – die Schale – wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen, und habe nicht den Wunsch, freigiebiger als Gott zu sein.“
Dann fährt er fort: „Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss. Tue das Gleiche! Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen. Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bis du dann gut? Wenn du kannst, hilf aus deiner Fülle; wenn nicht, schone dich.“
Ich finde, es ist ein kluger Rat, den Bernhard, der große Mystiker und erste Abt des Zisterzienserklosters Clairvaux aus dem 12. Jahrhundert, uns erteilt.
Die Schale – sie sammelt das Wasser. Bis sie, angefüllt mit  dem Grundelement des Lebens, überströmt und ihre Umgebung fruchtbar macht. Durch eine Kanalröhre hingegen rauscht das Wasser nur so hindurch. Nichts bleibt zurück - außer Leere.
Wie viele Menschen aber fühlen sich heute leer, ausgebrannt und nutzlos? Wie eine Kanalröhre, in die auf der einen Seite alles Mögliche an Anforderungen hinein gestopft wird. Und wo auf der anderen Seite Ergebnisse herauskommen sollen.
Zwei Gedanken scheinen mir an Bernhards Rat wichtig. An den Gebenden, die Gebende, gerichtet sagt er:  überfordere dich nicht! Baue Zeiten ein in dein Leben, suche Orte auf, wo du dich sammeln kannst! Gelegenheiten, bei denen du das Wasser des Lebens, seine Fülle und Schönheit, in dir aufnimmst!
Und zu den Empfangenden, sagt er: überstrapaziere deinen Mitmenschen nicht! Sondern lass ihm Zeit und Möglichkeiten, ganz bei sich zu sein. Und seine Schale immer wieder volllaufen zu lassen.
Kanal oder Schale sein, das ist die Frage! Ich bin mir sicher: Mein Schöpfer will mich nicht ausgelaugt und erschöpft sehen, sondern schöpferisch. Aufnahmefähig und aufnahmebereit. Wie eine Schale, die warten kann, bis sie gefüllt ist. Und die dann überströmt und weitergibt.

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