SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Beim Aufräumen ist es mir wieder in die Hände gefallen: mein altes Adressbuch. Jahrzehntelang lag es in einer Schublade tief unten. Jetzt blättere ich in seinen vergilbten Seiten. Erinnere mich an Namen und Gesichter. An Geschichten und Orte, wo sie sich zugetragen haben.
Zum Beispiel der freundliche Assistent an der Uni, den man jederzeit zu einem Kaffeeplausch aufsuchen konnte, und der mir wertvolle Tipps zum Schreiben meiner ersten Seminararbeit gab. Der irische Familienvater, der mich beim Trampen durch Irland zu seiner vielköpfigen Familie in sein Auto lud. Die Kommilitonin mit dem hellen Verstand, mit der zu diskutieren eine Freude war.
Menschen und Gesichter, die ich inzwischen längst aus den Augen verloren habe. Und an die mich das alte Adressbuch erinnert - jetzt, in der Zeit des Erntedanks. Sie stehen für unzählige andere Menschen, denen ich im Lauf meines Lebens begegnet bin, und von denen mir jeder Einzelne etwas Unvergessliches mitgegeben hat. Den Sinn dafür, wie gut es ist, den Lauf der Dinge für einen Moment zu unterbrechen. Sich Zeit zu nehmen für etwas Anderes. Für einen Gedanken, ein Argument, eine Melodie, die mir im Ohr geblieben sind und die ich seitdem mit ihm oder ihr verbinde.
Ich muss an ein Gedicht des Schriftstellers Arnim Juhre denken, in dem er auf diese weitläufige Verwobenheit mit anderen Menschen hinweist. Da heißt es:
„Ich hab die Faser nicht gesponnen, die Stoffe nicht gewebt, die ich am Leibe trage. Ich habe nicht die Schuhe, die Schritte nur gemacht...
Ich hab die Städte nicht entworfen, die Häuser nicht gebaut – und habe doch zu wohnen. Ich kann nicht Ziegel brennen und doch schützt mich ein Dach... Wer mich sieht, sieht viele andere nicht, die mich ernährt, gelehrt, gekleidet haben, die mich geliebt, gepflegt, gefördert haben. Mit jedem Schritt gehen viele Schritte mit. Mit jedem Dank gehen viel Gedanken mit.“
In der Tat, das ist so! Mit jedem Schritt gehen viele Schritte mit. Mit jedem Dank gehen viel Gedanken mit.
Mir ist es in diesen Oktobertagen wichtig, zu danken für alles, was die materielle Grundlage meines Lebens ausmacht. Das Brot und die Früchte des Feldes gehören dazu. Aber eben auch der Dank für unzählige Menschen, die mein Leben bereichert haben. Und deren Leben mit meinem durch den einen oder anderen bunten Faden verknüpft ist.

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