SWR2 Wort zum Tag

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Ich hätte nicht gedacht, dass ein Gebäude so zu mir sprechen kann.
So existentiell wie die Kathedrale in Reims. Dass Gebäude mir etwas erzählen aus anderen Zeiten und Kulturen. Dass sie mir Menschen nahebringen, das habe ich oft erlebt. Aber noch nie so wie in Reims.
Die Kathedrale von Reims war im Ersten Weltkrieg Opfer, genau wie die Stadt in der Champagne und ihre Einwohner. 1918 völlig zerstört. Deutsche Soldaten hatten sie 4 Jahre lang fast jeden Tag beschossen. Das vormals stolze Haus Gottes nur noch ein totes Gerippe. Wie die Stadt und viele ihrer Menschen.
Nach dem Ende des Krieges haben sich die Menschen in Reims gefragt: Was kann dieses Gerippe noch sein? Was sollen die Trümmer sagen? Die einen waren dafür, die Kirche auf immer zu belassen in diesem Opferzustand. Als „steinernes Beinhaus“. Mahnmal des Krieges.
Andere, vor allem der Bürgermeister und der Kardinal waren dafür, sie wieder aufzubauen. Sie haben sich durchgesetzt. Ihre Begründung war: Eine Kathedrale, die nur noch Gerippe ist, Opfer auf immer, aus der kann kein neues Leben erwachsen. Vor allem, man schreibt damit auch für sich selbst die Opferrolle fest. Und der Kriegsgegner bleibt für immer der Feind, der barbarische, der ihr und uns das alles zugefügt hat.
Wie gesagt: Die Position des Bürgermeisters und des Kardinals hat sich durchgesetzt. Die Kathedrale kein Steingerippe. Man hat sie wieder aufgebaut.
Für mich haben sie damit dem christlichen Glauben ein Zeichen gesetzt. Mit dem Wiederaufbau der Kirche haben sie glaubhaft gemacht, was der Kern des christlichen Glaubens ist.
Es gibt ein Leben nach dem Tod. Christen verharren nicht im Bann des Todes, sie glauben an Auferstehung. Und sogar eine zerstörte Kathedrale kann diesem Glauben lebendigen Ausdruck geben. In Reims ist mir das so spürbar gewesen wie selten.
Und mehr noch hat mich ein zweiter Gedanke angesprochen:
Irgendwie hat diese Kirche etwas „erlebt“, was man selbst auch erleben kann. Ich, vielleicht Sie auch. Man ist verletzt worden, andere haben einen tief getroffen. Dann gibt es diese Versuchung, Opfer auf Dauer zu bleiben und die anderen zu den Bösen zu machen: Sie sind schuld, dass ich nie mehr so gesund, so fröhlich, so glücklich, so erfolgreich sein kann wie ich einmal war. Ich glaube, es gibt bei Menschen die Versuchung, Auferstehung zu verweigern.
Sich der Möglichkeit zu verschließen, noch einmal etwas zu beginnen. Die Kathedrale in Reims bezeugt dagegen, dass Auferstehung möglich ist, auch mitten im Leben. Wir sind nicht berufen, Opfer zu sein, sondern zu leben.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18363
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