SWR2 Wort zum Tag

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1914 und 1939, die Anfänge und Katastrophe der beiden Weltkriege: 100 bzw. 75 Jahre ist das her. Wir erinnern uns daran. Und manche sehen Parallelen zu den Konflikten und Kriegen der Gegenwart. Ja, es ist wichtig, an Abgründe und Ursachen zu erinnern. Aber noch wichtiger scheint mir zu fragen, wie Versöhnung gelungen ist.
Was braucht es, dass Menschen, die einander lange als „böse Feinde“ gesehen und so behandelt haben, im anderen den „Menschen“ wieder entdecken können. Menschen, mit denen man sich sogar „befreunden“ kann.
Politische Vernunft. Ganz sicher. Aber ich glaube, das ist nicht genug, wenn ganze Völker eine neue Perspektive füreinander finden sollen. Wenn Traumata überwunden werden müssen.
„Justice et Charité, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“, das waren die Schlüssel für die deutsch-französische Versöhnung. So hat das jedenfalls der Erzbischof von Reims in seiner Predigt ausgedrückt, die er im Beisein von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer gehalten hat. 1962, bei der feierlichen „Deklaration“ der deutsch-französischen Versöhnung in Reims.
„Einander die Hände zu reichen, ist gut“ hat der Erzbischof gesagt „besser ist, einander die Herzen zu reichen.“ Und dann ist er sehr bildhaft geworden: „Friede wird geschaffen in einem Labor der Liebe und die Elemente in diesem Labor sind Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“. Französisch: „Justice et Charite.
Vielleicht kein Zufall, dass er für „Elemente“ das Wort „minerais“ verwendet hat, eigentlich also „Erze“. Damit spielt er an auf das Bild des Stahlkochens. Stahl für Kanonen war das Mittel der industriellen Kriegführung. Die Deutschen hatten vom „Gott, der Eisen wachsen ließ“ gesungen.
Stahl war das Symbol der Feindschaft. Und der Erzbischof sagt damit: Versöhnung braucht auch starke Elemente, aber solche, die den Stahl als Symbol ablösen und Feindschaft überwinden: „Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.“
Gerechtigkeit allein genügt nicht, wenn „Feinde“ sich wieder als Menschen sehen sollen. Gewiss, ohne sie hätte Versöhnung kein Fundament. Aber Gerechtigkeit, also Ausgleich, Wiedergutmachung, das Eingeständnis von Schuld zwischen Feinden, braucht auch Barmherzigkeit. Feindschaft hört erst auf, wenn man nicht nur sein Recht will, sondern auch vergibt.
„Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“: Wäre diese Perspektive nicht auch heute wichtig in den Konflikten, in denen unser Europa steckt? Vielleicht auch mal fragen: Wie könnte Europa den Menschen auch in Russland gerecht werden?
Versöhnung als Ziel ins Spiel bringen?

 

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