SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Eine Freundin hat eine Knochenmarkspende bekommen. Der Spender bleibt anonym, das ist ja auch gut so. Gegenseitige Ansprüche könnten entstehen. Aber offenbar sagt die Klinik, aus welcher Gegend die Spende kommt. Ihr Spender – oder die Spenderin, das wissen wir nicht - kommt aus einer großen ostdeutschen Stadt, und er oder sie ist ungefähr so alt wie meine Freundin. Heute vor dem Tag der deutschen Einheit hat mich das in besonderer Weise berührt. Als diese Person geboren wurde, da wurde gerade die Mauer gebaut. Fast dreißig Jahre hätte kaum jemand geglaubt, dass die Mauer fallen könnte. Da haben Menschen in Ost und West nicht darüber nachgedacht, wie sie einander das Leben retten könnten sondern eher über das Gegenteil. Menschen wurden an der Grenze erschossen. Auf westdeutscher Seite standen Raketen, die in Richtung DDR zielten. Wer weiß, welche Einstellung der Knochenmarksspender aus Ostdeutschland zu DDR-Zeiten über Westdeutschland hatte. Jedenfalls rettet ostdeutsches Knochenmark heute das Leben einer Westdeutschen.
Als ich klein war haben wir beim Indianerspielen Blutsbrüderschaft geschlossen, so richtig mit Papis Taschenmesser, und unser Blut vermischt. Jetzt produzieren die Zellen eines unbekannten Menschen aus Ostdeutschland Blut im Körper einer westdeutschen Frau. Das ist eine Blutsbrüderschaft der besonderen Art, eine gelebte Form der deutschen Einheit. Weil Geschichte dann besonders lebendig wird, wenn ich sie mit meinem persönlichen Leben verbinde, sind es solche kleinen oder großen persönlichen Begegnungen, die aus der politisch realisierten Einheit eine wirkliche Gemeinschaft werden lassen. Kaum vorstellbar, dass meine Freundin jemals abfällig über „Ossis“ sprechen würde – wenn sie das jemals vorher getan hat. Vielleicht braucht es mehr solcher Erlebnisse, um Deutschland wirklich wieder zu einer Einheit zusammenwachsen zu lassen: Die Erfahrung, dass mir ein Mensch aus der anderen Ecke Deutschlands hilft. Es muss ja nicht gerade das große Lebensdrama sein. Eine Autopanne, bei der mir ein anderer sein Handy leiht, ist so eine Möglichkeit. Ich persönlich bin der Masseurin aus Mecklenburg-Vorpommern dankbar, die meinen Rücken wieder fit gemacht hat.
Es ist ein bisschen so wie beim barmherzigen Samariter. Der hilft einem verletzten Juden, obwohl Samaritaner und Juden sich zu ihrer Zeit spinnefeind waren. Der Samaritaner hilft, obwohl ihn die Angelegenheit sogar Geld kostet, und er rettet dem schwer verletzten Juden damit das Leben. Jesus hat keine Fortsetzung dieser Geschichte erzählt. Ich könnte mir jedoch nicht vorstellen, dass der gerettete Jude noch einmal abfällig über Samaritaner gesprochen hätte. Möglicherweise hat schon die Geschichte dazu geführt, dass manche der Zuhörer einen anderen Blick auf ihre Mitmenschen gewonnen haben.
Es ist schon so: Appelle zur Einheit helfen wenig. Was hilft sind konkrete Erfahrungen, die uns klar machen, dass wir Menschen aufeinander angewiesen sind. In unserem Land, das heute uns allen gehört. Den Ost- und den Westdeutschen. Es sind so schwierige Aufgaben zu meistern. Wir müssen für unsere gemeinsamen Werte eintreten in der Welt. Für Frieden und Toleranz und Gleichberechtigung. Das können wir nur, wenn wir es selbst leben und erfahren.

So eine Erfahrung hat gerade meine Freundin gemacht. Es ist vielleicht aus globaler Perspektive kein wichtiges Ereignis. Für mich aber ist es ein wunderbarer Erfolg der Deutschen Einheit. Die Deutsche Einheit hat meiner Freundin das Leben gerettet. Dafür bin ich Gott dankbar, und allen, die dazu beigetragen haben, dass wir heute wieder ein Volk sind.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18359
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