SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Beim Taufgespräch schenkt mir der große Bruder des Täuflings ein selbstgemaltes Bild. Eine Sonne mit einer Krone, drei Strichmännchen, Mama, Papa und er. Und die kleine Schwester? Er grinst und verschränkt die Arme. „Deine Schwester gehört aber auch dazu“ sagt seine Mutter strafend. Kein Wunder, dass die Sonne auf dem Bild des kleinen Jungen eine Krone trägt. In den seligen Zeiten, als er mit seiner Mama und seinem Papa alleine war, da war er der Prinz. Da war das Leben königlich schön. Und jetzt? Mich erinnert die Szene an einen Freund. Er hat seiner kleinen Schwester kurz nach der Geburt eine Briefmarke auf den Kopf geklebt, weil er sie zurückschicken wollte. Als ältere Schwester habe ich ein Herz für alle entthronten Prinzen und Prinzessinnen. Es ist nicht leicht, den Stammplatz zwischen Papa und Mama teilen zu müssen, ja ihn gar zu räumen, wenn die ganze Aufmerksamkeit dem süßen kleinen Schreihals gilt. Irgendwie finde ich es auch sehr einfallsreich, die frischgeborene Konkurrentin per Post zurückschicken zu wollen oder einfach malend auszusparen. Immer noch besser, als das Geschwisterkind final auszuschalten. So wie bei Kain und Abel in der Bibel, da erschlägt der eifersüchtige ältere Bruder den Jüngeren. Irgendwann findet der kleine Mann seine Schwester sicher auch liebenswert. Hoffentlich jedenfalls. Mit meiner komme ich inzwischen auch gut aus. Trotzdem: Was Eifersucht und Neid bedeuten, das habe ich früh mit meiner Schwester gelernt. Heute habe ich sie sehr lieb. Aber ich teile nicht jeden Tag mit ihr, vielleicht ist das das Geheimnis bleibender geschwisterlicher Zuneigung.
Der kleine Junge ist sehr anregend für mich. Warum nicht Tage nur für sich und die Eltern reservieren und das genießen. An anderen Tagen kann man sich dann wieder als Gesamtfamilie finden und sich aneinander neu freuen.
Die Methode künstlerischer Aussparung ist bestimmt auch im Blick auf andere schwierige Gefühle nützlich. Ich könnte ein Bild malen ohne die Menschen, die mich gerade nerven oder ärgern oder auf die ich neidisch bin. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Wer weiß, vielleicht entstehen so echte kleine Kunstwerke! Wenn ich mich so ausgetobt habe, fällt es mir bestimmt auch leichter, meine mich nervenden Mitmenschen mit freundlichen Augen anzuschauen. Sie sind von Gott geliebte Geschöpfe. Auch wenn mir diese göttliche  Perspektive manchmal nicht leicht fällt. Das Bild des kleinen Jungen habe ich mir als Inspirationshilfe an die Wand gehängt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18358
weiterlesen...