SWR2 Wort zum Tag

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Den Alltag ins Gebet nehmen, das ist jene christliche Lebenskunst, die bei der französischen Mystikerin Madeleine Delbrel zu lernen ist. Sie sitzt z.B. in der U-Bahn in Paris und schaut auf die Gesichter derer, die mit ihr unterwegs sind. Sie entdeckt in ihnen das Angesicht Christi, der ja gesagt hat: „Was ihr dem Geringsten meiner Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Entsprechend nimmt Madeleine im später geschriebenen Text diese Situation ins Gebet mit folgenden Worten: „Herr, gib wenigstens, dass die Dickhäutigkeit, die mich prägt, dir kein Hindernis ist. Gehe durch mich hindurch. Meine Augen, meine Hände, mein Mund sind dein. Diese so traurige Frau mir gegenüber: Hier ist mein Mund, damit du ihr lächelst. Dieses vor lauter Bleichsein fast grau Kind, hier meine Augen, damit du es anschaust. Dieser so müde, so müde Mann: hier ist mein ganzer Leib, damit du ihm meinen Platz gibst und meine Stimme, damit du ihm leise sagst: 'Setz dich'“. Sie weiß sich von Christus gesandt, sie schlüpft sozusagen in seine Rolle und will den geplagten Mitmenschen etwas von der Güte Christi selbst vermitteln. „Wo keine Liebe ist, bringt Liebe, so werdet ihr Liebe finden“. Das ist ihr Motto. Gottesglaube ist ihr kein Privatbesitz, sondern ein Auftrag und eine Mission. Sie weiß sich selbst unendlich beschenkt, und diesen Schatz gilt es unter die Leute zu bringen – aber nicht durch fromme Sprüche oder spirituelle Kraftanstrengungen, sondern schlicht durch das eigene Verhalten und Dasein. In jedem Augenblick des Tages können wir, davon ist Madeleine Delbrel überzeugt, etwas von der Haltung Jesu gegenwärtig werden lassen. In einem ihrer Texte meditiert sie den Besuch in einer Disco – schreibt betend: „Durch unsere armselige Erscheinung, durch unsere kurzsichtigen Augen, durch unsere Liebe-leeren Herzen wolltest du all diesen Leuten begegnen, die gekommen sind, die Zeit totzuschlagen“. Sie weiß sich gesandt und beauftragt, hier und jetzt das ihr  Mögliche zu tun, damit das Gerücht von Gott nicht verloren geht und der Geist Jesu lebendig bleibt. Und immer ist diese Lebensfreude im Spiel, dieses Glück, Christin sein zu dürfen. Immer diese Überraschungslust: Alles, was uns begegnet, ist neu und will in neuem Licht gelebt, gestaltet und entziffert werden. Gerade heute.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18285
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