SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Nichts scheint selbstverständlicher als das Atmen, auch jetzt. Ich brächte keinen Satz heraus, ohne die Luft, die durch mich hindurch fließt. Im Ein- und Ausatmen mache ich Gebrauch von einer größeren Wirklichkeit, ohne die ich nicht am Leben wäre. Ich gehöre damit in einen viel größeren Zusammenhang; ich bin viel mehr als ich bin. Es ist kein Wunder, dass alle Religionen das Atmen zu einem zentralen Bild der göttlichen Wirklichkeit machen. „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ - heißt es in der Bibel. Und im Kirchenlied: „Luft, die alles füllet, / drin wir immer schweben, / aller Dinge Grund und Leben / Meer ohn Grund und Ende ,/ Wunder aller Wunder..“ Die anscheinend so selbstverständliche Atmung von ganz außen zuinnerst durch uns hindurch und angereichert wieder nach draußen – wird zum Bild für das Gott-Geheimnis in uns und die Geborgenheit in Gott.

Ein- und Ausatmen prägen also auch den spirituellen Rhythmus.Die französische Sozialsarbeiterin und Mystikerin  Madeleine Delbrel  nennt diesen Rhythmus des geistlichen Lebens „Anbetung“ und „Engagement“. Die Zeit der Stille vor Gott morgens und abends umarmt den oft hektischen Tag. Aber auch den Tag über empfiehlt Madeleine Delbrel immer wieder das kurze Innehalten im Gebet. Wasserbohrungen in der Wüste nennt sie das. Wie viele Pausen gibt es den Tag über oder nur kurze Unterbrechungen. Beim Warten auf den Bus, in der Einkaufschlange vor der Ladenkasse, in der Zigarettenpause – sie war eine stramme Raucherin und da gewiss kein Vorbild. Immer wieder kräftig auf- und durchatmen  - solche Energiezufuhr tut dem Körper  gut und auch  der Seele. Solch mutige Stoßgebete helfen, den Tag und die Nacht über gut im Lot und bei sich zu sein, und in Gott. Sich diesem spirituellen Atemrhythmus so zu überlassen, wie die Vögel sich der Luft überlassen – das setzt Kräfte frei für das, was dann ganz praktisch zu tun und zu lassen ist. Einatmen und Ausatmen, Anbeten und Tun – diesen Rhythmus von „Beten und Arbeiten“ bringt die Französin in ihrer Muttersprache auf eine elliptische Spannungsformel: „Solitaire und solidaire“. Solitaire, das ist die Intimität des Gott-Einatmens, des Betens und der Anbetung, das ist das Verweilen in Seiner Gegenwart – und Solidaire meint das ganz praktische solidarische Leben mit andern Menschen und für sie. Einatmen und Ausatmen, Gottesliebe und Nächstenliebe – das ist der Kern des Christlichen. Also bewusster und tiefer einatmen und ausatmen – das wäre kein schlechter Impuls für jetzt, für diesen Tag.

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