SWR2 Wort zum Tag

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In Vietnam kann man sie noch beobachten - hier in Deutschland gibt es sie kaum noch: Glucken mit ihren Küken. Es ist ein rührendes Bild, wenn die kleinen gelben Fellkugeln hinter der Mutter herlaufen und sich bei Gefahr unter ihre Flügel flüchten. Doch sogar in Vietnam wirken die Glucken mit ihren Küken wie Relikte aus einer vergangenen Zeit, man findet sie nur noch in den Bergregionen des Landes. In Südostasien boomt die Wirtschaft, für das Schwache, Kleine, Verletzliche ist da wenig Platz. Wer nicht mithalten kann, wer zu schwach ist, um zu arbeiten oder wer krank ist und keine Familie hat, die die Kosten für medizinische Betreuung tragen kann oder will, der hat keine Chance.
Vielleicht wirkt eine Glucke mit ihrem Völkchen gerade in ihrem Kontrast zur erbarmungslosen Umwelt besonders tröstlich. Es gibt sie noch, die Zuflucht, die bergenden Flügel, den Trost der Mutter, mitten in einer unbarmherzigen, harten Umgebung.
„Breit aus die Flügel beide, o Jesu meine Freude, und nimm dein Küchlein ein. Will Satan mich verschlingen, so lass die Englein singen: Dies Kind soll unverletzet sein.“ Die Verse des Liederdichters Paul Gerhardt nehmen das Bild der Glucke auf. Im Schatten dieser Flügel ist Geborgenheit, Zuflucht vor dem Schrecken der Welt. Die Flügel setzen der Angst eine Grenze. Diese Welt hat nicht das letzte Wort. In ihr eröffnet sich, schon jetzt, ein heilvoller Schutzraum, ein göttlicher Machtbereich, in dem Menschen anders, nämlich befreit leben können.
Mitten in einer sich selbst zerstörenden Welt, entsteht ein Ort, ein Refugium, in dem Menschen Atem holen dürfen, sich erholen können von der Welt - und von sich selbst. Ihre Schuld, alles, was sie bedrückt und belastet - es muss draußen bleiben. „Breit aus die Flügel beide“.
Die kleinen Küken reagieren sofort auf den Lock- oder Warnruf der Mutter. Schließlich hängt ihr kleines Kükenleben davon ab. Christus geht es auch um unser Leben, nichts ist ihm wichtiger. „Dies Kind soll unverletzet sein.“
Ich stelle mir vor, wie mich diese Flügel bergen und spüre: während es mir eben noch schwindelig werden konnte, ist jetzt Raum und Zeit, um aufzuatmen, um wieder zu mir zu kommen.
Zu sich kommen, dafür braucht es diesen Schutzraum, diese Geborgenheit. Und diese Vergebung, die die Wunden der Vergangenheit sanft zudeckt. Wenn das geschieht, können Menschen, aus der schützenden Geborgenheit, der Welt in die Augen sehen. Nüchtern und wach, um besonnen wahrzunehmen, was zu tun ist, damit unsere Welt ein menschlicheres Gesicht gewinnt. Die angeblich zwingenden Gründe der Globalisierung müssen nicht das letzte Wort behalten. Wenn ich - unter dem Schatten der Flügel - Atem geholt habe, dann kann ich meine Stimme erheben für die, die zu schwach sind, krank oder hilflos um für sich zu sprechen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=1820
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