SWR2 Wort zum Tag

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(Gerhard Richter 3)

„Verkündigung nach Tizian“, so lautet der Titel einer Serie von Bildern des Malers Gerhard Richter. Als Richter das Bild des italienischen Renaissancemalers Tizian in Venedig sah, war er so begeistert davon, dass er es für sich haben wollte. Und weil das nicht möglich war, hat er es kopiert und in weiteren Variationen immer mehr ins Abstrakte verändert.

Die erste Kopie, die für Richter nicht einmal „halbwegs ansehnlich“ gelungen war, zeigt in einem Raum in Renaissance-Architektur eine im Gebet versunkene Maria. Sie kniet vor einem Lesepult mit aufgeschlagener Heiliger Schrift. Ihr Gesicht und ihre vor der Brust gekreuzten Hände werden von einem Lichtstrahl aus der Höhe erhellt. Ihr gegenüber ist eine der Maria zugewandte schwebende Engelsgestalt zu sehen, in wehendem roten und weißen Gewand, von demselben Licht von oben erleuchtet. In der linken Hand hält der Engel Lilien, mit der rechten Hand weist er die kniende junge Frau auf das Licht aus der Höhe hin. Über allem liegt ein Schleier von Unschärfe und Geheimnis. Trotz Richters Selbstkritik: ein wundervolles Bild.

Warum hat ein Maler der Gegenwart dieses alte Bild aufgegriffen, das die Verkündigung der Empfängnis des göttlichen Kindes durch Maria darstellt? Gerhard Richter selbst sagt dazu: „Das Thema der Verkündigung faszinierte mich; ich stellte mir das einfach wunderbar vor, wenn man etwas verkündigt bekam.“ Er deutet damit an, was Kunst überhaupt ist: eine Botschaft aus einer Welt, über die wir nicht verfügen können; ein Licht der Freiheit, das uns zeigen kann, dass das Wesentliche im Leben nicht zu berechnen ist und nicht in unserem Zweck- und Nutzendenken aufgeht.

Richters Bild leitet meine Gedanken noch weiter: Es ist etwas Wunderbares in meinem Leben. Es ist nicht machbar, sondern es wird mir geschenkt. Liebe ist Geschenk, meine Begabungen sind Geschenk, die Freiheit, die mich denken und handeln lässt, ist Geschenk. Das Leben selbst ist Geschenk. Ich kann über all das nicht verfügen, es wird mir zugesprochen. Gewiss: Es ist mir aufgegeben, zu gestalten, etwas zu leisten, aus meinem Leben etwas zu machen. Aus nichts kommt nichts. Oder doch? Kommt nicht letztlich alles aus einer Welt, in der Nichts und Fülle eins sind und die nichts von mir verlangt als offen zu sein? Kommen auch das Schwere und das Leid aus dieser Welt?

In Richters Variationen zu Tizians Verkündigungsbild löst sich alles Gegenständliche auf; und doch bleiben die Gestalt Marias und die Gestalt aus der lichten, göttlichen Welt in Andeutungen präsent. Es geht um eine Lebenswahrheit, die sich der Darstellung und den erklärenden Worten letztlich entzieht; und die dennoch eine heilsame Gegenwart ahnen lässt – und sei sie noch so verborgen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18181
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