SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

02AUG2007
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Vor einiger Zeit bekamen Menschen aus meinem Bekanntenkreis eine anspruchsvolle Aufgabe gestellt. Sie sollten an eine wichtige Zeit in ihrem Leben zurückdenken und aufschreiben, wie sie diese Zeit erlebt und verarbeitet hatten. Es ging um den Todesfall eines nahen Menschen, um eine Trennung, eine schwere Krankheit, den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt. Manche winkten gleich ab: das kann und will ich nicht. Es war schwer genug, das möchte ich auf keinen Fall noch einmal anschauen. Andere zögerten, ob sie zustimmen sollten. Das Ereignis lag noch nicht allzulang zurück - war schon genug Zeit vergangen, um eine Bilanz wagen zu können? Konnte ihr Fazit andere verletzen? Oder gar sie selbst?
Einige sagten spontan zu, es war, als hätten sie die ganze Zeit darauf gewartet, einen Anlass zu finden, um zurückzublicken.
Die, die sich schließlich auf die Aufgabe einließen, bekamen noch eine Bedingung gestellt: Sie sollten ihren Rückblick auf zwei DinA4 Seiten beschränken.
Alle, die sich auf dieses Experiment eingelassen haben, waren überrascht, wie wichtig gerade diese scheinbare Einschränkung war. Sie half ihnen, ihre Gedanken zu konzentrieren, bewahrte sie davor, abzuschweifen und den Faden zu verlieren. Es war eine solch intensive Zeit - wenn sie alles, was sie damals bewegt hatte, hätten aufschreiben dürfen, wer weiß, ob sie überhaupt angefangen hätten!
Insgesamt berichteten alle, dass ihre schriftliche Bilanz eine gute und überraschend hilfreiche Erfahrung war. Manchmal hatte es wehgetan, schmerzliche Erinnerungen aufzuschreiben. Doch im Prozess des Schreibens, in der Konzentration auf das Wesentliche konnten Erfahrungen bewältigt und eingeordnet werden. „Seitdem ich diese Seiten geschrieben habe, fühle ich mich erleichtert, ja, wie befreit“ erzählte eine Frau. „Dabei sind diese zwei Seiten kein Urteil für die Ewigkeit - es ist eine Bilanz für Hier und Heute. Es war nicht leicht, aber es war segensreich.“
Ich kann nur jedem Menschen Mut machen, für sich persönlich dieses Experiment zu wagen. Es braucht nicht viel Material: Zwei leere DinA4 Blätter, einen Füller oder einen Laptop. Es braucht allerdings eine Portion Beherztheit und genügend Zeit, um die Lebensphase, auf die ich zurückblicken will, in der Erinnerung zu bedenken.
„Ich habe erst durch dieses Aufschreiben diese Erfahrung in meinem Leben wirklich verarbeiten können“ erzählt eine Frau, die es gewagt hat. Bei einigen mündete ihre Bilanz in einem Gebet. Es war, als ob das Gespräch, dass sie auf zwei Papierseiten mit sich selbst begonnen hatten, sich geöffnet hatte. Sie waren in den Dialog mit Gott eingetreten, ihre Bilanz hatte so eine eigene, besondere Qualität gewonnen.
Zwei leere Seiten, die warten - vielleicht haben Sie Lust an diesem Experiment gewonnen und in diesem Sommer Zeit und Ruhe, sich darauf einzulassen.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=1818
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