SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

(Gerhard Richter 1) 

„Betty“ – so heißt ein Bild des Malers Gerhard Richter. Zurzeit ist es in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel zu sehen. 1988 hat Richter dieses Bild seiner Tochter nach einem Foto gemalt.

Das Bild zeigt Kopf und Oberkörper der sitzenden Betty. Sie dreht sich vom Betrachter weg und stützt sich dabei mit dem linken Arm nach hinten ab. Was sie trägt, könnte ein Morgenmantel sein, mit Kapuze, leicht geöffnet, weiß mit roten Blumenmustern. Das Gesicht ist abgewandt. Sie zeigt ihre Wange und einen Teil des Halses. Lange blonde Haare sind im Nacken lose zusammengesteckt; eine Haarsträhne fällt über das halb verdeckte Ohr. Von oben scheint Licht auf die Haare und lässt sie hell schimmern – fast wie ein Heiligenschein. Eine leichte Unschärfe verstärkt das Zarte. Alles an dem Bild wirkt sehr vertraut – liebevoll in seinen Details und doch von respektvoller Diskretion. Fast ehrfürchtig.

Betty ist als Person ganz nahe, präsent und unverwechselbar. Und doch bleibt sie auch unnahbar und fremd. Der Hintergrund ist grau – eine Farbe unbestimmt zwischen hell und dunkel. Mit ihrem Blick, mit ihrer ganzen Person wendet sie sich etwas Offenem, Unbekannten zu, das mir verborgen bleibt.

Ein Gleichnis des Menschseins ist dieses Bild; ein Gleichnis dessen, was wir meinen, wenn wir von menschlicher Personalität und menschlicher Begegnung sprechen. Es ist immer beides: Nähe und Distanz, vertraut sein und fremd sein. Wege, auf denen wir einander begleiten und die doch jeder letztlich selber gehen muss – seine Wege gehen, seine Erfahrungen machen, zum eigenen Ich-selbst finden. Kinder sind ihren Eltern seit der Geburt vertraut und wachsen doch in ihr eigenes und anderes Leben hinein. Ehepaare sind einen langen gemeinsamen Weg gegangen, und das vertraute und geliebte Du enthält doch immer einen Rest, der unbekannt ist und mir fremd bleibt. Ja vielleicht nehme ich das Verborgene, das Andere im Du umso deutlicher wahr und achte es umso mehr, je näher ich ihm bin. Mit einem Menschen vertraut sein und ihn lieben heißt: diese Frau, dieser Mann, dieses Kind ist für mich in seinem Tiefsten ein Geheimnis, das ich achte. So wie auch ich in einem unverfügbaren Anteil meiner selbst geachtet werden will. Es ist etwas am Du, das mir verborgen bleibt; und es ist auch etwas in mir, das Dir und selbst mir verborgen bleibt.

Das meinen wir wohl, wenn wir sagen: der Mensch, jeder Mensch, ist ein Ebenbild Gottes.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18179
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