SWR3 Gedanken

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An diesem Morgen liegt die neunjährige Agnieszka mit leichtem Fieber im Bett. Eigentlich hätte sie die Hühner füttern müssen, aber das erledigt nun die Großmutter. Es ist ein ganz normaler Tag in einem kleinen polnischen Dorf nahe der deutschen Grenze. Wir schreiben das Jahr 1939. Die Sonne scheint, keine Wolke am Himmel.
Wolken ziehen auf. Aber nicht in dem kleinen polnischen Dorf, sondern im weit entfernten Moskau. Während die kleine Agnieszka eine Sommergrippe ausbrütet, brüten Staatsmänner über dem so genannten „Hitler-Stalin-Pakt“. Das Deutsche Reich und die Sowjetunion werden einander vorläufig in Ruhe lassen. Das Bauernopfer ist Polen, das auf dem Papier unter den beiden Nationen schon einmal aufgeteilt ist. Bevor auch nur ein einziger Soldat über die Grenze marschiert ist.
Die kleine Agnieszka erholt sich langsam von ihrer Grippe. Eine gute Woche später steht sie neben ihrer Großmutter im Hof und füttert die Hühner. Es ist der 1. September 1939. Deutsche Soldaten haben in der Nacht ihr Land überfallen. Und wenig später ist auch der „Hitler-Stalin-Pakt“ keinen Pfifferling mehr wert. Das große Morden hat begonnen.
Die kleine Agnieszka überlebt den Krieg, ihre Großmutter nicht. Und die Hühner erst recht nicht. Eine ganze Welt versinkt in Schutt und Asche. Selbst fünfundsiebzig Jahre später ist der fade Nachgeschmack von Tod und Zerstörung nicht verschwunden. Schon gar nicht für die kleine Agnieszka.
Sie ist mittlerweile längst selbst Großmutter. Würde ihren Enkeln gerne den Hühnerstall zeigen, ihre Heimat zeigen. Aber da ist nichts mehr, was man zeigen kann. Und in ihren Träumen hört sie noch immer das Brüllen der Soldaten und die Schüsse in der Nacht.
Heute ist der Europäische Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus. Heute denke ich an Agnieszka und ihre Geschichte. Weil Kinder von Hühnern träumen sollten und nicht von Gewehrschüssen.

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