SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Es war ein Jammer, die Leute anzusehen, die mit ihrer allernötigsten Habseligkeit über den Rhein zogen, ihr ganzes Heim im Stich lassend aus Furcht, dass ihre Häuser zusammengeschossen werden. Frauen und Kinder mit weinenden Gesichtern. Ein alter Mann mit wenigen Habseligkeiten auf einem Schubkarren.“ Diese Sätze stehen im Kriegs-Tagebuch meines Großvaters. Aufgeschrieben auf den Tag genau heute vor 100 Jahren. Der 1. Weltkrieg war gerade eine Woche im Gang. Noch sind die Soldaten voller Begeisterung, wie mein Großvater tags darauf im Tagebuch festhält. 17 Millionen Menschen bezahlen diese Begeisterung am Ende mit ihrem Leben.

Dieser Kriegsbeginn vor 100 Jahren begleitet mich in diesem Jahr. Durch das Tagebuch meines Großvaters. Durch die täglichen Erinnerungen in den Medien. Sie rücken mir besonders nahe durch die aktuellen Kriegsberichte in den Zeitungen, aus der Ukraine, Syrien, aus Gaza und Israel.

Kein Krieg fällt einfach vom Himmel. Der erste Weltkrieg und auch der zweite – sie sind Teil einer Verstrickungsgeschichte. Menschen haben andere spüren lassen, was sie selber am eigenen Leib erfahren hatten. Unrecht. Leid. Trauer. Immer sind Menschen verstrickt. Betroffen. Traumatisiert. Viele der alten Geschichten sind noch nicht wirklich bewältigt. Und immer kommen neue Geschichten dazu. In neuen Erfahrungen von Unrecht und Leid. „Die Eltern haben schlechte Trauben gegessen. Und den Kindern sind davon die Zähne kaputt gegangen.“ (Hesekiel 18,2) So beschreibt die Bibel diese Abhängigkeit der Gegenwart von der Vergangenheit. Aber sie fügt hinzu: „Dieser Zusammenhang muss ein Ende haben!“

Verstrickungsgeschichten brauchen Gegengeschichten. Gegengeschichten, das sind die Geschichten, die ausbrechen aus den Verstrickungsgeschichten. Es gibt sie. In den inzwischen  so ganz anderen Beziehungen zu Frankreich. Und zu Polen. Gehörig viel Mut hat das gebraucht. Solcher Mut kann eingeübt werden. Auch in den kleinen Beziehungen, in denen wir leben. In Familien. In der Nachbarschaft. Ich will Sie verlocken, sich nach solchen Gegengeschichten umzuschauen. Und sie vielleicht auch aufzuschreiben. Ich entdecke sie, wenn ich vom hebräisch-arabischen Sommerlager für Grundschul-Kinder in Nes Ammim in Israel lese. Oder davon, dass sich jedes Jahr junge Menschen als Freiwillige in vielen Ländern für Frieden einsetzen. Es lohnt sich, diese Aktionen festzuhalten. Für diejenigen, die in 100 Jahren in unseren Tagebüchern lesen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18124
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