Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Danke, dass Sie mir so lange zugehört haben!“ Die Dame war in Stuttgart zugestiegen und hatte sich im Bistro der Bahn zu mir gesetzt. Ich zeigte sehr deutliches Interesse, mein Buch weiter lesen zu können. Doch daraus wurde nichts.

Die Frau legt einfach los. Den Tod des Mannes hat sie noch lange nicht verwunden. Sie erzählt mir von ausgedehnten Reisen, von letzten gemeinsamen Spaziergängen, vom langen Sterben des geliebten Menschen. Immer wieder weint sie. „Es sind die kleinen Dinge im Leben, die zählen“, sagt sie plötzlich. Und irgendetwas mit dem eigenen Herzen stimme nicht, ein Arztbesuch kann nicht länger aufgeschoben werden. Es hört einfach nicht auf, sagt sie traurig.

Dann die vier Enkel, ihr größten Glück. Jetzt bekommt ihr Gesicht Farbe, ein strahlendes Lachen gelingt für einige Augenblicke. Eben war sie für ein paar Tage zu Besuch bei ihrem Sohn und dessen Familie. Es waren Festtage für sie. Im Hallenbad mit den Kleinen, eine Zugfahrt zum  Bodensee, die gute Nachtgeschichte  vor dem Einschlafen. Und dann wieder: „Mein Mann hätte das alles doch so gerne noch erlebt.“

Mein Buch habe ich längst sehr deutlich in die Aktentasche gesteckt. Jetzt erzählt die Frau von ihrer Kindheit, hart und  unbeschwert zugleich. Die Mutter war der sichere Hafen, wenn der Vater mit Wort und Tat heftig wurde. „Es sind die kleinen Dinge, die im Leben zählen“, kommt es erneut. Ich nicke stumm, kann das ohne größere Überlegung auch für mein Leben bestätigen.

Wir waren schon fast in Mainz am Bahnhof eingetroffen, als sie mich plötzlich fragte, was ich beruflich so mache. Die Dame wartete nicht auf meine Antwort, vermutete einen Seelsorger oder einen Arzt in mir. Dass ich Theologe bin, hat sie folglich nicht überrascht.“ Ich habe fast zwei Stunden geredet, und Sie haben kein einziges Wort gesagt. Danke, dass Sie mir zugehört haben“, sagte sie zum Abschied.

Das Umgekehrte gilt freilich auch. Danke für die Offenheit und für das Vertrauen in einem Gespräch, das einmalig war und einmalig bleiben wird.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18105
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