SWR2 Wort zum Tag

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Es gibt viele Perspektiven auf die Wahrheit und manches lässt sich erst erkennen, wenn wir unterschiedliche Perspektiven nebeneinander gelten lassen. Ein Gleichnis des libanesischen Schriftstellers Khalil Gibran bringt diese Einsicht anschaulich auf den Punkt:
Das Auge sieht sich um und sagt: „Hinter den Tälern und Hügeln, über den Nebelbänken sehe ich weit draußen einen erhabenen Berg. Ist es nicht wunderschön, wie majestätisch er über der Landschaft aufragt?“ Das Ohr reckt sich, lauscht eine Weile angestrengt und fragt dann enttäuscht: „Wo ist hier ein Berg? Ich kann keinen hören.“ Darauf die Hand: „Ich versuche schon vergeblich, nach ihm zu greifen. Aber ich kann keinen Berg finden.“ Auch die Nase mischt sich ein, rümpft sich und erwidert kurz und knapp: „Ich rieche nichts. Da ist kein Berg.“ Da wendet sich das Auge ab und schaut in eine andere Richtung. Ohr, Hand und Nase aber diskutieren weiter über diese merkwürdige Täuschung, der das Auge offenbar unterlegen war – und kommen zu dem Schluss: „Mit dem Auge stimmt was nicht.“
Ein Gleichnis über die menschlichen Sinne. Doch zugleich ist es mehr als das, denn in dieser Geschichte geht es auch um Vielfalt und Toleranz, um unterschiedliche Lebenserfahrungen und darum, sie ernst zu nehmen, gerade in ihrer Unterschiedlichkeit.
Für mich zeigt Gibrans Gleichniserzählung auf anschauliche Weise, wie begrenzt Menschen in dem sind, was sie wahrnehmen. Jedes der geschilderten Sinnesorgane hat nur seine eigene, vergleichsweise eng bemessene Reichweite. Und jedes nimmt andere Qualitäten der Wirklichkeit wahr. Wer will bestimmen, was wirklich ist und wahr?
Die Unterschiedlichkeit von Erfahrungen und Sichtweisen ist anstrengend. Auch unterschiedliche Glaubensperspektiven fordern heraus. Doch wenn Gibrans Gleichnis zutrifft, dann ist Wahrheit in der Tat vielschichtig – auch und vor allem religiöse Wahrheit. Im Gegeneinander oder in der Ausgrenzung wird nichts erreicht.
Die Pointe in der Geschichte ist ja, dass alle Sinne zusammengehören. Sie sind Teil eines Leibes und sie passen auch zusammen – vorausgesetzt, sie werden in ihrer jeweiligen Stärke erkannt; ihnen wird ein Beitrag auf dem Weg zu einer gemeinsam zu entdeckenden Wahrheit zugetraut. Und das ist dringend notwendig, denn gegen die selbstgenügsame Meinung von Nase, Hand und Ohr hat das Auge eine echte Chance verdient.
 

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