Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Plötzlich steht der Zug. Mitten auf der Strecke. Und dann rührt sich erst einmal nichts. Langsam werden die Reisenden unruhig. Dann kommt die Durchsage. „Wegen eines Notarzteinsatzes am Gleis verzögert sich unsere Weiterfahrt auf unbestimmte Zeit.“

Ich bin viel mit dem Zug unterwegs. Nicht das erste Mal höre ich diese Durchsage. Aber sie lässt mich immer noch nicht kalt. Notarzteinsatz am Gleis, das heißt: Da hat jemand versucht, sich umzubringen. Sein Leben zu beenden, indem er oder sie sich vor den Zug wirft.

Als Reisender kriege ich nicht viel von dem mit, was dann passiert. Ich halte nichts davon, gaffend am Fenster zu stehen. Und so warte ich halt. Ich weiß aber, wie einschneidend der Notarzteinsatz am Gleis für alle Beteiligten ist. Vor allem für die Lokführerin oder der Lokführer. Die sind danach oftmals tage- und wochenlang nicht mehr in der Lage ihren Beruf ohne Angst auszuführen. Manche hören ganz auf, so sehr verfolgt sie die Bilder des Unfalls.

Und während der Zug steht, denke auch in an die Menschen, die wohlmöglich noch um das Leben des Sterbenden kämpfen. Und ich denke vor allem an den Menschen, der sein Leben beenden will. Der nicht mehr Leben kann. Der keinen anderen Ausweg mehr sieht, als sich selbst zu töten.

Bis heute fällt mir schwer, mich in diese Situation hineinzufühlen. Aus vielen Büchern und Studien weiß ich, dass der Suizid fast immer einer Logik der Enge folgt. Das eigene Leben wird immer enger und aussichtsloser. Das Leben, seine Möglichkeiten und Chancen, treten mehr und mehr in den Hintergrund. Das Leben verdunkelt sich. Das Ende wird zum einzigen Ausweg.

Bei einem Notarzteinsatz am Gleis kann ich nichts tun. Nur an den Menschen denken – und an die Menschen, die ich kenne und die mir lieb und teuer sind. Und ich bete darum, dass ich bemerke, wenn sich ihr Leben verdunkelt. Dass es für sie nie zu einem letzten Schritt kommen muss.

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