SWR2 Wort zum Tag

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„Wer war ich, bevor ich mich kannte?“ Der flapsige Graffiti-Spruch hat was, finde ich. Wie weit zurück reicht mein Empfinden und Erinnern? Was gehört von Anfang an zu meiner Person? Welche Erfahrungen prägen mich? Wer bin ich, bevor ich sagen konnte, wer ich bin? Darüber lässt sich nicht nur philosophieren, sondern darüber wird auch in der aktuellen Traumaforschung viel diskutiert.
Es wird gefragt: Gibt es so etwas wie vorgeburtliche und geburtliche Traumata, die man als erwachsener Mensch erinnern kann und so lernt, sich selbst besser zu verstehen? Traumata, die sich ins frühkindliche Bewusstsein eingenistet haben, wenn beispielsweise die Schwangerschaft ungewollt und das Kind nicht gewünscht war. Oder wenn es körperliche Stress-Situationen für Mutter und Kind in der Schwangerschaft gegeben hat und das Ums-Leben-Kämpfen-Müssen schon im Mutterleib begonnen hat. Oder wenn Eltern zum Beispiel lieber einen Jungen gehabt hätten statt dem Mädchen, das geboren wurde.
Viele Menschen suchen nach einem Zugang, wie sie sich selbst verstehen und ihr Verhalten in Beziehungen besser erklären können. Sie gehen immer weiter ins Unbewusste hinein. Sie versuchen, sich einen Weg durch ihre seelischen Wirrungen und Empfindungen zu bahnen. Der Weg führt sie zu Empfängnis und Geburt zurück. Ein Blick in die Fachliteratur dazu zeigt: Die Liste möglicher Verletzungen und Krisen, die sich vor und bei der Geburt traumatisch auswirken können, ist lang. Kann man ihnen überhaupt entgehen? Man könnte angesichts der möglichen Schrecken fast daran zweifeln, ob es ein gefahrloses, glückliches Geborenwerden und In-die-Welt-Hineinkommen geben kann.
Geborenwerden ist also riskant, nicht nur als biologischer Prozess, sondern auch als psychischer Weg. Diese Erkenntnis der Traumaforschung geht davon aus, dass der Mensch ein Wesen ist, das nicht einfach als Solitär in die Welt hineingeworfen wird. Er ist abhängig von anderen und von den Verhältnissen, in denen er lebt. Damit ist er nicht nur von Beziehungen gehalten, sondern eben auch gefährdet, wenn diese bedrohlich sind.
Anscheinend ist sich schon der Psalmbeter im 139. Psalm der Bibel der Anfänge des Geborenwerdens bewusst. Er staunt darüber, wie unglaublich wunderbar er geschaffen ist: „Ich hatte noch keine Gestalt gewonnen, da sahen deine Augen schon mein Wesen.“ (Ps.139,16). Ich finde, das ist ein tröstlicher Gedanke. Dass der Mensch nicht im All verloren und nicht an die menschlichen Bedingungen ausgeliefert ist, sondern dass Gott da ist, auch schon vor und im Geborenwerden.
Wer war ich, bevor ich mich kannte? Die Antwort der Bibel heißt: Fürchte dich nicht. Du warst Gottes Kind, von Anfang an.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17956
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