SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Am schwarzen Brett im Lehrerzimmer hängt in diesen Tagen eine Todesanzeige. Das kommt hin und wieder vor. Aber diese hat mich schockiert und lässt mich nicht zur Ruhe kommen. Der Tod eines ehemaligen Schülers wird dort vermeldet. 22 Jahre ist er alt geworden. Auf Nachfrage bei Kollegen erfahre ich, was ich bereits vermutet habe: Suizid. Der junge Mann hat sich selbst das Leben genommen. Sofort bin ich an zwei von meinen eigenen Klassenkameraden erinnert, die das auch getan haben während ihrer Studienzeit. Das ist inzwischen viele Jahre her. Trotzdem sehe ich sie vor mir, wie sie waren damals mit zwanzig. Und ich merke, wie sich mir die Kehle zuschnürt. Immer noch. Nach so langer Zeit.

Als ich den Unterricht an diesem Tag beginne, kann ich nicht anders. Ich muss meine Schüler mit der Frage konfrontieren, die mich selbst so sehr beschäftigt: „Weshalb will ein junger Mensch, gerade mal 22 Jahre alt, nicht mehr weiter leben?!“ Natürlich wissen sie darauf keine Antwort. Es geht ihnen genauso wie mir. Wir werden stumm, wenn wir so etwas Schlimmes hören. Aber dazu ist die Frage auch nicht gestellt. Ich will nur nicht allein bleiben mit meiner Bestürzung. Und was ich auch will: dass meine Schüler wissen, dass es passiert ist, dass so etwas passieren kann. Sie sollen den Tod, auch diesen Tod nicht verdrängen. Sie sollen lernen, dass weder sie noch ich den Tod erklären können, dass man ihn aushalten muss. Gerade auch so einen Tod.

Die Frage nach dem Warum bleibt bestehen, wenn ein Mensch Suizid begeht. Am meisten quält diese Frage ohne Antwort die Angehörigen und Freunde, und alle, die näher mit dem Menschen zu tun hatten, der nicht mehr weiterleben wollte oder konnte. Wir suchen nach Gründen, wollen verstehen. Wir überlegen, was wir im Nachhinein anders gemacht hätten. „Hätte ich helfen können? Habe ich mich zu wenig gekümmert?“ Wir müssen uns nicht automatisch für schuldig erklären. Trotzdem ist jeder Suizid auch eine Botschaft an die Welt, die zurück bleibt. Sie lautet: Für diesen Menschen, unter seinen konkreten Umständen, zu eben dieser Zeit war der Tod die einzige Alternative. Nicht das Leben. Der Suizid war sein Ausweg. Das zu hören ist bitter und tut sehr weh.

Ich möchte nicht, dass es einem Menschen so geht, mit dem ich zu tun habe. Aber wenn alles nichts nützt, dann hoffe ich darauf, dass Gott jedes Leben bewahrt, so wie es ist. Auch wenn es auf dieser Welt in einem Suizid endet.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17931
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