SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

Wie kommt es, dass Menschen gerne stehen bleiben und gaffen, wenn sie an einem Unfall vorbei kommen? Ich habe mir diese Frage oft gestellt. Nicht zuletzt deshalb, weil ich mich selbst kontrollieren muss, um das nicht auch zu tun. Bestenfalls liegt es daran, dass sie überlegen, ob sie helfen können? Oder sie haben regelrecht den Zwang hinzuschauen, weil sie das sonst nicht für real halten, was da passiert ist.  Allerdings melde ich Zweifel an, dass das der Hauptgrund ist. Für mich bleibt fast nur die folgende Variante übrig, weil ich die von mir selbst kenne. Ich glaube, wir tun es aus Neugierde. Da ist ein Drang in uns, das Unglück zu sehen. Nicht, dass wir uns am Leid des anderen weiden wollen. Aber wir können uns dem Sog der Ereignisse auch nicht entziehen.

Hilfreich ist das in so einer Situation nie. Wenn nämlich viele so schaulustig reagieren, bilden sich Staus auf der Straße. Die Helfer der Rettungsdienste kommen nicht durch. Die Polizei hat zusätzlich damit zu tun, den Unfallort frei zu räumen. Ich unterstelle, dass alle Schaulustigen das wissen. Und trotzdem stehen bleiben. Weil die Neugier größer ist. Größer als die Vernunft in so einem Moment. Weil sie das, was es da womöglich zu sehen gibt, unmittelbar packt. Es ist, als ob sie ganz tief in unserem menschlichen Wesen verankert wäre: die Lust am Schauen.

Hinterher sagen sie: „Oje, wie schlimm, wie furchtbar!“ Und sie denken: „Zum Glück ist mir das nicht passiert!“ Und dann suchen sie das Weite, um das Unglück möglichst schnell wieder zu vergessen. Aber den Adrenalinstoß, den ihnen das Bild vom zerschmetterten Motorrad gegeben hat, den nehmen sie mit.

Bei mir hat sich hinterher oft ein schales Gefühl eingestellt, so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Es hat sich falsch angefühlt, unpassend. Diese Neugier war nicht gut. Und es kostet mich bis heute Kraft, meiner Schaulust etwas entgegen zu setzen. Aber es ist so besser. Ich habe mir außerdem ein Argument ausgedacht, das mir dabei hilft. Ich hoffe, es hilft auch Ihnen, wenn sie das nächste Mal in eine entsprechende Situation geraten. Ich sage mir: Das Unglück, das mich angeht, kommt von alleine zu mir. Ich muss es nicht suchen, indem ich das Unglück der anderen begaffe.

 

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