SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Jede Generation hat das Recht auf ihre eigenen Erfahrungen.
„Es bleibt ein Fluch der Natur, dem Menschen zu versagen, seine Erfahrungen zu vererben.“ So Egon Bahr in seinen Erinnerungen an Willy Brandt. Vererben Menschen tatsächlich ihre Erfahrungen nicht an die Nachkommen? Ich finde, Bahr hat da Unrecht. In der Bibel wird vom Propheten Hesekiel sogar der Spruch überliefert: Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden. In der Tat vererben Menschen ihre Erfahrungen, z. B., indem sie ihren Kindern davon erzählen oder davon schreiben – so wie Egon Bahr. Auch ohne Worte vererben wir Erfahrungen. Es wird sicherlich Auswirkungen haben, wenn jemand als Kind erlebt, dass der Vater jeden Abend ängstlich kontrolliert, ob auch alle Fenster und Türen fest verschlossen sind.
Andererseits ist es ein Glück und alles andere als ein Fluch, dass nicht alle Erfahrungen unserer Vorfahren auf uns übergehen. Wahrscheinlich verdanke ich meine recht stabile Gesundheit der Tatsache, dass auf den Bauernhöfen meiner Vorfahren mütterlicherseits eine robuste Konstitution einfach überlebensnotwendig war. Dankenswerterweise habe ich jedoch nicht die Erfahrung geerbt, von der Gnade irgendwelcher Landadeligen abhängig zu sein. Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden. In der Bibel wird das nicht als Segen gesehen, sondern als Fluch. Es wäre ein Fluch, wenn man alle Erfahrungen der Väter und Mütter erben würde. Menschliche Erfahrungen sind eben nicht nur heldenhaft und weise, sondern oft genug dunkel und schwer. Vielleicht hat Egon Bahr an alle wichtigen Erfahrungen gedacht, die er in seinem Leben machen konnte und bedauert nun, diese nicht vererben zu können. Doch glücklicherweise gibt es eine heilvolle Grenze zwischen den Generationen.
Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden. Bei Hesekiel geht es weiter: So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen.
Es ist ein Segen, dass Menschen sich auch von den Erfahrungen ihrer Vorfahren distanzieren können. Schließlich wissen die Vorfahren nicht in vollem Umfang, ob ihre Erfahrungen ihren Nachkommen wirklich nutzen. So manches, was in der Vergangenheit segensreich schien, ist heute eine schwere Last. Und umgekehrt. Nicht zuletzt: Unsere Kinder haben das Recht auf ihre ganz eigenen Erfahrungen. Auf die guten und die schlechten.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17859
weiterlesen...