SWR2 Wort zum Tag

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„Weniger als die Hoffnung auf  ihn“  - so beginnt das Gedicht, und es folgt eine Leerzeile, um den Satz zu unterstreichen. Wer soll das wohl sein, auf den so wenig Verlass ist? Wer  verspricht derart mehr, als er halten kann ? „Weniger als die Hoffnung auf ihn // das ist der Mensch/einarmig/immer“  Auch nach diesem Satz  des Gedichts  stoppe ich  irritiert. Habe ich nicht zwei Arme und zwei Hände?  Bin ich nicht, Gott sei Dank, einigermassen vollständig?  Die Folgestrophe gibt den entscheidenden Kontrast: „nur der gekreuzigte./  beide Arme/weit offen / der Hier-Bin-Ich“.  Ohne Schlusspunkt stehen die Verse von Hilde Domin  im Raum, wie ab- und aufgebrochen. Das Gedicht trägt die Überschrift  „Ecce homo“. Das ist bekanntlich ein Zitat aus der Leidensgeschichte Jesu. Da sagt Pilatus zum Volk fast entschuldigend: „schaut, was für ein Mensch“.

Hilde Domin hat dieses Gedicht geschrieben, die deutsche Jüdin  aus Köln, die vor den Nazis ihr Leben ins Exil retten konnte. Von da bekommt der illusionslose Eingangssatz  seine Wucht.  Schonungslos markiert der Vers  das Risiko Mensch, irgendwie  amputiert  und hin und her eiernd zwischen gutem Wollen und bösem Tun. Wer seine Hoffnung, seine letzte vor allem, auf ihn setzt, gerät auf ganz dünnes Eis.  Das Gedicht stellt ein Wesen in den Mittelpunkt, das wir alle sind: vielversprechend  oft, aber wie oft auch enttäuschend.

Umso erstaunlicher ist es, dass die Dichterin mitten in diese  doch  enttäuschende, freilich erschreckend realistische Szenerie  einen anderen stellt. Dass auch der ein Mensch ist, wird gar nicht gesagt, so anders ist er: gekreuzigt und  doch mit offenen Armen für alle und alles, „weit offen“.  In diesem Gekreuzigten, bewusst klein geschrieben, geraten alle  Gekreuzigten und  Erniedrigten  dieser Erde  vor unser  Auge. Dieser Eine steht stellvertretend für sie alle, die Ausgeschlossenen und Vernichteten – er mit den weit offenen  beiden Armen: „der Hier-Bin-Ich“. In der Bibel ist das  ein Schlüsselname : Gott sagt das zum Menschen  und der Mensch sagt es vor Gott und zu ihm: „hier bin ich für dich und mit dir“. Wie nackt steht der gekreuzigte da, aber weit offen, bereit zur Umarmung.

So lässt sich das Gedicht auch als Spiegel verstehen, in dem wir unser wahres Gesicht sehen. Traurig grüßt der, der ich bin, den , der ich sein könnte und sein sollte. Und doch mit größerer Hoffnung: denn der einarmige , der ich bin, sieht sich immer schon dem gegenüber, der „beide Arme/ weit offen“  hat   und  uns umarmt , wie wir sind. Ob dieser  „Hier-Bin-Ich“  uns nicht einlädt, es ihm dann gleich zu tun ?

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17843
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