Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Die Stimmung ist aufgeladen. Autos fahren über die Kreuzung, obwohl sie es nicht bis hinüber schaffen und gleich alles blockieren werden, wenn der Gegenverkehr losfährt. Einzelne hupen, alle schauen genervt, manche fluchen. Ein Krankenwagen kommt kaum durch. Es ist fünf Minuten vor Anpfiff, gleich spielt Deutschland gegen Portugal, alle wollen irgendwo hin, zum Public Viewing, zu Freunden, zum Einkauf oder einfach nur nach Hause. Und dann der Stau.
Hektik ist ansteckend. Ich fühle mich angesteckt - mittendrin im Stau. Und schimpfe vor mich hin: „Warum der Stau? Warum gerade hier und jetzt, wo ich es eilig habe?“
Ich versuche, ruhig zu bleiben. Erst mal tief durchatmen. Ein Spruch kommt mir in den Sinn, ziemlich alt schon. Aus einer Zeit, in der es noch keine Staus und keine Autos gegeben hat: „Eine Hand voll Gelassenheit ist besser als beide Hände voll Mühe und Jagd nach Wind!“ So wurde es in den Sprüchen in der Bibel formuliert. Schöner Spruch –trotzdem bekomme ich das nicht hin, die Hand voll Gelassenheit. Überall hochrote Gesichter hinter dem Lenkrad, zusammengebissene Zähne.
So siehst du wohl auch aus, habe ich mir gesagt. Von wegen gelassen. Aber dann musste ich an einen Mann denken, den ich morgens getroffen hatte. Der hat zu mir gesagt:
„Manchmal sehne ich mich nach meiner Hektik von früher. Hier im Krankenhaus gehen die Tage kaum rum, ich hab Zeit, aber nutzen kann ich sie doch nicht. Hier ist mir klar geworden: Gott will wohl, dass ich mit der Zeit ein wenig bewusster umgehe.“
„Eine Hand voll Gelassenheit ist besser als beide Hände voll Mühe und Jagd nach Wind.“ Klar, ich werde auch wieder nach Wind jagen. Aber es hilft daran zu denken, was dem Mann in der Zeit seiner Krankheit klar geworden ist: Wir alle können sicher bewusster mit der Zeit umgehen. Sehr begrenzt ist sie, sehr kostbar. Selbst im Stau.
Natürlich waren die meisten dann doch rechtzeitig da, um das Fußballspiel zu sehen. Und zu hören, wie Thomas Müller,  der Torschütze des Abends, am Ende grinst. Und auf die Frage, ob er nicht aufgeregt war, antwortet er: „Ich bleib da einfach ganz gelassen. Wie immer halt!“

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